Ueber den Horizont hinaus - Band 1
die Jahre erarbeitet hatte, und das es jedes Mal einzusetzen galt, wenn er ein Ziel anstrebte, von dem die anderen, ihm übergeordneten Diener nichts wissen durften. Sei es, dass es sich um das Stehlen eines frischen Apfels aus dem Obstgarten handelte, der selbstverständlich der Herrschaft zugedacht war, oder um das kurze Bad im Bach, das im Sommer zu verlockend war, aber dennoch ungern gesehen und schwer geahndet wurde.
Offenbar hatte der Fremde sich ähnliche Techniken angeeignet, nur dass er sie in einer vollkommen anderen Umgebung anwendete, die Ferdinand nicht verstand und von der er sich nicht einmal sicher war, ob er sie verstehen wollte.
Jedes Mal, wenn der Blick des anderen in die Nacht wanderte, fragte Ferdinand sich, ob der ihn vielleicht doch sehen konnte, ob er sich gut genug verborgen hatte und welche Konsequenzen darauf folgten, sähe der Junge ihn immer noch dort stehen, an einem Ort, an den Ferdinand nicht gehörte, in dessen Nähe er nicht einmal erlaubt war sich aufzuhalten.
Dennoch ging Ferdinand nicht. Auf unbegreifliche Weise gefesselt, wurde er nicht müde, den Bemühungen des Jungen zu folgen, der Art, wie der irritiert sein dunkles Haar aus dem Gesicht blies, das ihm immer wieder von Neuem in die Stirn fiel. Den kleinen, stolpernden Schritten, die jede versuchte Drehung begleiteten, oder dem enttäuschten Wedeln mit seinen Armen, wenn er sich wieder der falschen Seite zuwandte, einen ärgerlichen Blick des Lehrers erntete.
Ferdinand war sich nicht sicher, was ihn festhielt und fast fühlte er sich erleichtert, als der Junge, nach einem letzten und bedauernden Blick in die Dunkelheit vor dem Gebäude aus dem Raum geführt wurde.
Erst jetzt kehrte er auf schnellstem Wege in den Stall zurück und versprach sich selbst für den Rest des Aufenthaltes, keinen Gedanken mehr an seinen unbesonnenen, nächtlichen Ausflug zu verschwenden.
Sein Vorhaben wurde Ferdinand allerdings erschwert, als er in den folgenden Tagen immer öfter auf den fremden Jungen traf. Und während jeder Begegnung, die ebenso zufällig wie inszeniert wirkte, starrte der andere ihn an.
Selbstverständlich senkte Ferdinand pflichtbewusst sofort seinen Blick.
Ob es nun der Fall war, dass der Fremde zu früh auftauchte, um sein Pferd abzuholen, oder sich für einen Jungen seines Ranges vollkommen unangebracht ohne größere Begleitung als zwei oder drei Diener, die ihm aufgeregt hinterher hasteten, im Freien aufhielt, sein Verhalten blieb verwirrend.
Er war anders, hob nicht mit der ihm standesgemäßen Zurückhaltung sein Kinn, um an jeglicher unwürdigen Dienerschaft vorbeizuschreiten, ihr deren fehlende Bedeutung ins Bewusstsein rufend.
Stattdessen sah er Ferdinand immer wieder unverfroren an und obwohl der trotz seines gesenkten Kopfes den Blick auf sich spürte, schien der Fremde sich nicht einmal zu schämen, keineswegs das Unpassende seines Verhaltens zu empfinden.
Doch spielte das keine Rolle, nicht für Ferdinand. Er kannte sehr wohl seinen Platz und auch wenn ihm Ausrutscher unterliefen, so kam es nicht in Frage, dass er ein Risiko egal welcher Art einging. Schon gar nicht in der Fremde.
Dennoch und trotz seiner Vorsicht geschah es, dass Ferdinand hin und wieder aufsah, um unvermittelt im Blick des anderen gefangen zu sein, der ihn viel zu direkt und über eine viel zu große Entfernung hinweg ansah.
Ferdinand wusste nicht, was er mit diesen Blicken anfangen sollte und auch wenn ein Teil von ihm es bedauerte, dass die Rückkehr bevorstand, so fühlte sich ein anderer fast erleichtert, dem seltsamen Fremden entrinnen zu können.
Und doch blieb ihm am letzten Tag seines Aufenthaltes der Atem weg, als er dem Pferd des Jungen den Sattel abnahm, und darunter geklemmt ein kleines Stück Papier entdeckte.
Für einen Augenblick betrachtete er überrascht die filigrane Schrift, bevor er sich besann und den Zettel rasch in seiner Brusttasche verschwinden ließ. Sein Herz hämmerte in der Brust, unbeantwortete Fragen und Schuld wetteiferten. Doch untrügliches Gespür versicherte ihm, dass das Papier für ihn bestimmt war.
Erst nachdem sie wieder zurückgekehrt waren und Ferdinand sich sicher genug fühlte, suchte er den einzigen Menschen unter der Dienerschaft auf, der lesen konnte, und bat ihn flehentlich, die wenigen Worte zu entziffern.
Mit kaum unterdrücktem Unbehagen, aber dennoch bereitwillig las der ihm vor, was auf dem Papier stand, und Ferdinand prägte sich die Worte ein.
Und manchmal, wenn er alleine
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