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Ueber den Horizont hinaus - Band 1

Ueber den Horizont hinaus - Band 1

Titel: Ueber den Horizont hinaus - Band 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Lenz
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zahllose hässliche Punkte folgten Narben der Einstiche die gesamte Linie seines inneren Armes hinauf, konzentrierten sich in der Mitte zu einer Ansammlung erschreckender Beweise des Bedürfnisses, sich selbst zu verletzen.
    Er erschrak, als Derek seine Tasse absetzte, unvermittelt Ivans Handgelenk ergriff, den Arm wieder zurückdrehte. Dereks Stimme klang sanft. „So verschieden sind wir gar nicht.“
    Damit krempelte er sein Hemd auf und entblößte ein Muster aus winzigen Narben, die seine ansonsten so glatte und gepflegte Haut entstellten.
    „So verschieden sind wir nicht“, wiederholte er und sah Ivan in die Augen. „Unsere Seelen kennen sich bereits seit Anbeginn der Zeit.“
    Ivans Gedanken wirbelten durcheinander. Keiner von ihnen ließ sich fassen, bis Derek seine Finger mit Ivans verschränkte.
    „Denkst du nicht auch?“, flüsterte er. „Denkst du nicht auch, dass es für all das einen Grund gibt?“
    Ivan nickte stumm und dann spürte er, wie ein Lächeln sich auf seinen Lippen ausbreitete. Ein Lächeln, das nicht so rasch wieder verschwand.
    Ende

Nordlicht
    Ferdinand kam neu in das Haus. Seine Aufgaben waren klar umrissen und doch verloren die strengen Grenzlinien im Laufe der Monate und Jahre an Bedeutung und er entwickelte sich vom einfachen Stallburschen zu einem Handlanger für alle und für jedes.
    Als er von den Besitzern gekauft worden war, zählte er gerade mal neun Jahre. So war es üblich, auch wenn man nicht direkt von Kauf sprach. Man wählte geschicktere, undeutlichere Ausdrücke, die jedoch alle nur die eine und keine andere Bedeutung besaßen.
    Letztlich spielte der Begriff auch keine Rolle. Entscheidend war, dass für Ferdinand gesorgt wurde, dass er ein Dach über dem Kopf und einen Platz zum Schlafen hatte. Dass er nicht verhungerte und seine Aufgabe im Leben erfüllte.
    Je älter Ferdinand wurde, desto mehr Gedanken machte er sich darüber, um welche Aufgabe es sich dabei wohl handeln könnte.
    Die Vorstellung wie der alte Gerhardt noch als krummbeiniger Greis die Ställe auszumisten und die Tiere zur Tränke zu führen, ließ Ferdinand innerlich erschauern. Dennoch konnte er sich nicht vorstellen, welche Richtung sein Leben stattdessen nehmen sollte.
    Manchmal beobachtete er seine Herrschaft, doch auch aus ihr wurde er nicht schlau. Unmöglich konnte es darum gehen, sich in Seide und Spitze zu kleiden und tagaus tagein auf hohen Absätzen mit großen Schleifen an den Schuhen über eigens für die vornehme Welt ausgelegte Teppiche zu stolzieren.
    Ferdinand dachte über diese Menschen nach und darüber, was sie taten, womit sie ihre Zeit verbrachten, aber trotz all der Zeit, die er in dieses Rätsel investierte, kam er nicht dahinter, worin der Sinn ihrer Existenz bestand. Er konnte sich nicht einmal vorstellen, womit sie diese rechtfertigten. Noch dazu schienen einige Exemplare eine geradezu bemerkenswerte Scheu vor denen zu hegen, die Tag und Nacht dafür arbeiteten, dass ihr Leben sich so bequem gestaltete, wie es allerorts zu beobachten war.
    Denn Ferdinand war durchaus weiter gekommen, als über die Grenzen dieses Gehöftes hinaus.
    In seinem vierzehnten Lebensjahr durfte er die Herrschaft zu deren Verwandten begleiten. Wobei begleiten bedeutete, dass er hinter der Kutsche herlief, so gut er es vermochte, und darauf achtete, dass keines der Schafe, die sie als Geschenke mitzubringen gedachten, den Hunden auskam.
    Auf dieser Reise stellte er nicht nur fest, dass die Welt größer war, als sein Hof und Heim ihm manchmal suggerierte, sondern auch, dass es auf anderen Höfen und in anderen Heimen ebenso zuging, wie auf dem, zu dem er gehörte. Dem er gehörte, wenn man es genau nahm.
    Nichtsdestotrotz zählte der Ausflug in die große, weite Welt zu den entscheidendsten Erlebnissen, an die er sich erinnern konnte. Und das nicht nur, weil sein Leben ansonsten eintönig und gleichförmig verlief, sondern auch aufgrund einer besonderen Begegnung.
    Natürlich war er schon zuvor auf Gleichaltrige gestoßen. Ferdinand stand nicht als Einziger bereits von Kindheit an in den Diensten betuchter Herrschaften. Und auch zu jenen, obwohl sie stets sorgfältig von dem Teil der für sie arbeitenden Bevölkerung abgeschottet waren, gehörten Kinder und Jugendliche.
    Doch durfte Ferdinand sie stets nur aus der Ferne sehen. Es war seine Aufgabe, sich um ihre Reittiere zu kümmern, sie vorzubereiten, bevor die Herrschaft sich zeigte, und zu versorgen, wenn diese schon längst wieder verschwunden

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