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Über den Missouri

Über den Missouri

Titel: Über den Missouri Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liselotte Welskopf-Henrich
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Nachahmung gewesen war. In ihrem früheren freien Leben hätten sie sicher mehr Vorsicht gebraucht. Aber jetzt waren sie abgestumpft.
    Ein Zelt öffnete sich, und ein Mädchen trat heraus. Ihre Haare waren kurzgeschnitten und fielen nur bis zur Schulter. Sie lauschte. Hatte sie den Schrei gehört? Sie mußte ihn gehört und verstanden haben. Wie absichtslos ging sie von den Zelten fort, der Bodenwelle zu, auf der Tokei-ihto lag. Er erkannte seine Schwester Uinonah und sah ihre Züge schon deutlich. Größer noch als sonst schienen ihre Augen in dem eingefallenen Gesicht.
    Sie erreichte den Kamm der Bodenwelle. Der Wind wehte um sie.
    Tokei-ihto war an der dem Dorf abgewandten Seite des Hügels ein Stück hinuntergeglitten und erhob sich jetzt, ohne daß er von den Zelten aus gesehen werden konnte. Die Schwester kam zu ihm.
    Uinonah glaubte, das Herz müsse ihr stocken, als sie dem Totgeglaubten, aber immer wieder als lebend Erträumten gegenüberstand. Wortlos, wie einst der Abschied gewesen war, blieb auch das Wiedersehen der Geschwister.
    Nach dieser Stille des Wiedersehens fragte Tokei-ihto kurz und mit bedeckter Stimme: »Habt ihr Verräter in den Zelten?«
    »Die Verräter sind fortgeritten im Dienst der Langmesser. Hyazinthe ist da, Schonkas Frau, aber ihre Zunge spricht kein Wort.«
    »Gehen wir!«
    Die Geschwister schritten miteinander über den Hügel und den Hang hinunter dem Dorf zu. Es war nur ein kurzer Weg, aber die Geschwister gingen sehr langsam. Mit jedem verhaltenen Schritt, den er an der Seite der Schwester tat, feierte der junge Häuptling die Heimkehr zu den Seinen. Uinonah aber fühlte den Bruder mit einer noch nicht zu bewältigenden Freude in dem gleichen Schritt neben sich.
    Endlich trafen die Geschwister auf Tschapa Kraushaar, der ihnen entgegenschaute.
    »Du bist’s!« Der Mann strich sich über die Augen, um sich zu vergewissern, daß er recht sehe. »Komm, mein Bruder, mein Häuptling – wir gehen in Tschetansapas Zelt.«
    Die vier Kinder schauten der kleinen Gruppe nach, die in dem genannten Zelt verschwand. Es war den Jungen und Mädchen zumute, als ob ein Wunder geschehen sei. Es war das Wunder, auf das Uinonah immer gewartet hatte. Ihr Bruder war wiedergekommen. Das war ein unfaßbar großer Augenblick.
    Als der junge Häuptling mit Kraushaar und Uinonah in das große Tipi eintrat, suchten seine Augen im Dämmerlicht sofort den Herrn des Zeltes. Tschetansapa war nicht anwesend. Nur Mongschongschah, seine Frau, saß da und streichelte unablässig die Kindertrage. An dem Reifen, der vor dem Kopfteil der Trage zum Schutz des Kinderköpfchens angebracht war, hingen zwischen schwarzen Federn noch die Spielsachen, mit denen die kleinen Hände gespielt hatten.
    Tokei-ihto und Tschapa Kraushaar ließen sich miteinander am Feuer nieder. Uinonah ging zu Mongschongschah und setzte sich zu ihr.
    »Da bist du wieder«, Tschapa holte tief Atem. »Hier zu uns bist du gekommen.«
    Die Schwester brachte dem Bruder einen Beutel mit Beeren.
    Er aß sie auf.
    »Eure Mustangs habt ihr noch nicht alle geschlachtet«, sagte der junge Häuptling schließlich, und niemand von denen, die diese Worte hörten, konnte ahnen, warum er gerade davon und zuerst von den Pferden sprach.
    »Hawandschita, der Zaubermann, wollte es nicht. Erst sollen wir selbst verhungern und dann die Mustangs«, gab Tschapa Kraushaar Auskunft.
    »Wollt ihr hier verhungern?« Der Häuptling begann knapp und scharf zu sprechen, wie vor einem Gefecht. Er saß seinem Jugendgefährten gegenüber, aber er fühlte sich unter Männern, die sein Zelt zerstört hatten, während er gefangen gewesen war.
    »Verhungern?« antwortete Tschapa, etwas verwirrt, schwankend zwischen weicher Freude und einem Aufbegehren.
    »Verhungern? Wer fragt danach außer dir? Für die Langmesser ist ein toter Dakota der beste Dakota.«
    »Ihr aber wollt leben?«
    Tschapa riß sich aus seinen Empfindungen heraus und antwortete nun in der gleichen Weise, in der der Heimgekehrte ihn gefragt hatte. »Wir müssen es versuchen. Wenn der Frühling kommt, kann etwas Vieh grasen … wir könnten auch säen …«
    »Auf diesem Boden?«
    »Wir haben keinen anderen mehr.«
    »Ihr habt beschlossen, mein Zelt zu zerstören und mich nicht mehr bei euren Tipis aufzunehmen?«
    Tschapa senkte den Blick. »Die Verräter kamen und zerstörten das Zelt. Dann sprach Schonka vor der Ratsversammlung. Die Waffen waren in seiner Hand. Unsere Ratsmänner schwiegen. Mein Bruder und Häuptling

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