Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Über den Wassern

Über den Wassern

Titel: Über den Wassern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
Vom Netzwerk:
waren. Lawler hatte erbittert mit Delagard darum gestritten, diese Unterlagen mitnehmen zu dürfen, als sie von der Insel aufgebrochen waren, und dieses eine Mal hatte er gewonnen. Und nun? Sie weiter aufbewahren? Wozu? In der vagen Hoffnung, daß es eine Chance gab, daß die fünf verschwundenen Schiffe wieder auftauchen könnten, alle Mann gesund an Bord? Sie bewahren, damit irgendein künftiger Inselhistoriker sie auswerten könne?
    Martello kam der Funktion eines Inselhistorikers noch am nächsten von allen. Vielleicht würde er diese jetzt nutzlosen Dokumente gern in die späteren ‚Cantos’ seines epischen Werks einarbeiten wollen.
    »Was gibt’s denn, Leo?«
    »Ich habe über die WOGE geschrieben«, sagte Martello. »Was uns geschehen ist, wo wir jetzt sind, wohin wir vielleicht gehen. Über all dies. Ich dachte mir, du möchtest vielleicht lesen, was wir bisher getan haben.«
    Sein Grinsen war einladend. Die feuchten braunen Augen blitzten vor Aufregung. Lawler begriff, daß Martello maßlos stolz war auf sich und nach Beifall hungerte. Er beneidete ihn ein wenig um diesen Überschwang, diese Offenheit, diesen ungebremsten Enthusiasmus. Hier, inmitten dieser verzweifelten Reise ins wahrscheinliche Verderben, war der Junge fähig, Worte zu finden und zu Poesie zu machen. Es war erstaunlich!
    »Bist du damit nicht ein bißchen vorschnell?« fragte er Martello. »Beim letztenmal warst du, glaub ich, gerade bis zur Emigration von der ERDE und zur Kolonisation der erste Sternwelten gekommen.«
    »Genau. Aber ich denk mir, ich komme irgendwann in meinem Gedicht an den Punkt, wo ich von unserem Leben auf Hydros berichten muß, und diese Reise hier wird dabei eine bedeutende Rolle spielen. Also habe ich mir gedacht, warum soll ich das nicht gleich jetzt niederschreiben, wo alles noch frisch in meinem Kopf ist, anstatt zu warten, bis ich so in vierzig, fünfzig Jahren ein alter Mann bin?«
    Ja, warum eigentlich? dachte Lawler.
    Während der letzten Wochen hatte Leo das Haar auf seinem kahlgeschorenen Schädel wachsen lassen; da war inzwischen kräftiges braunes Haar nachgesprossen. Er sah damit zehn Jahre jünger aus. Martello würde wahrscheinlich noch fünfzig Jahre länger leben (sofern irgend jemand auf diesem Schiff überhaupt überlebte). Vielleicht sogar siebzig weitere Jahre. Viel Zeit, um Gedichte zu schreiben. Doch ja, es war vielleicht richtig, daß er seine dichterischen Eindrücke gleich schriftlich festhielt.
    Lawler streckte die Hand aus. »Fein. Dann laß mich mal sehen.«
    Er las einige Zeilen und tat, als überfliege er den Rest. Es war ein langatmiger Erguß von der gleichen ungekonnten, kitschtriefenden Art wie jenes andere Bruchstück seines ‚großen Epos’, das Martello ihm zu lesen erlaubt hatte; allerdings hatte dieses Fragment hier wenigstens den Vorzug, daß es dank der persönlichen Erfahrung etwas mehr Leben zeigte.
    Aus der Höhe stürzte die Flut der Finsternis
    Drang tief in uns ein, bis ins Mark der Knochen.
    Schwer kämpften wir und mühten uns,
    Um nicht zu kentern, als der neue Feind, gewaltiger
    Noch als der erste kam: Die WOGE war es!
    Und brachte große Angst, erstickend
    In der Kehle und eisig in der Brust.
    Die WOGE! Schreckensfeind, der mächtigste von allen,
    Erhob sich wie ein Wall aus Tod im Angesicht der
    See... Wir aber zitterten und zagten und fielen
    Verzweifelt nieder auf die Knie...
    Lawler blickte auf. »Ziemlich stark, Leo.«
    »Ich glaube, ich habe eine völlig neue Ebene damit erreicht. Bei den ganzen historischen Passagen mußte ich mich von außen herantasten, aber dies hier, das war ganz nah’...« Er streckte die Hände flach aus. »Ich brauchte es nur niederzuschreiben, so schnell ich die Worte aufs Papier bringen konnte.«
    »Du warst eben inspiriert.«
    »Ja, genau, das ist das richtige Wort.« Scheu griff Martello nach dem Manuskriptblatt. »Ich könnte es dir auch hierlassen, Doc, wenn du es vielleicht noch genauer lesen möchtest.«
    »Nein, nein, danke. Ich möchte lieber warten, bis du den ganzen Gesang fertig hast. Du hast noch nichts darüber geschrieben, wie wir hinterher wieder auf Deck kommen und feststellen, daß wir tief mitten im Leeren Meer stecken.«
    »Ich hab gedacht, ich warte damit, bis wir wirklich das Feste Land über den Wassern erreicht haben. Derzeit ist unsere Reise ja nicht besonders interessant, nicht? Es passiert überhaupt nichts. Aber wenn wir dort ankommen...« Er brach bedeutungsvoll ab.
    »Ja?« fragte Lawler. »Was

Weitere Kostenlose Bücher