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Über den Wassern

Über den Wassern

Titel: Über den Wassern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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Wespen im Hintern, das nie ertragen hätte können. Es war jetzt das zweite Jahr von Joses Ausbildung, und Lawler vermutete, daß Jose bereits die Hälfte der Grundtechniken beherrschte; den Rest und die diagnostische Geschicklichkeit würde er sich ebenfalls mit der Zeit aneignen. Der Junge stammte aus einer Familie von Seefahrern; der ältere Bruder, Martin, war Kapitän auf einem von Delagards Schiffen. Es paßte genau zu dem Bild von Jose, daß er sich wegen der Krankenblätter der Patienten Sorgen machte. Lawler bezweifelte, daß man sie würde mitnehmen können; auf Delagards Schiffen schien nicht viel Platz für Cargo zu sein, und es gab vordringlichere Prioritäten als die Patientenkartei. Also würden er und Jose eben die Krankengeschichten der Inselbevölkerung unter sich aufteilen und auswendig lernen müssen, ehe der Auszug begann. Aber das würde weiter kein großes Problem sein. Er selbst hatte die meisten Fälle sowieso bereits im Gedächtnis. Und Jose, vermutlich, ebenso.
    »Hoffentlich komme ich auf dasselbe Schiff wie du«, sagte der Junge. Neben Bruder Martin war Lawler für Jose sein größtes Heldenidol.
    »Nein«, sagte Lawler ernst. »Wir werden auf verschiedenen Schiffen Dienst tun. Falls dann meins Schiffbruch erleiden sollte, dann bist immer noch du da und kannst die ärztliche Betreuung vornehmen.«
    Jose schaute drein, als hätte ihn der Blitz getroffen. Weshalb? Wegen der Vorstellung, das Schiff seines Helden könne kentern und Lawler zugrunde fahren? Oder bei dem Gedanken, er selbst werde wirklich eines Tages der Koloniearzt sein? Vielleicht schon sehr bald?
    Wahrscheinlich war es das. Lawler erinnerte sich, was für Gefühle ihn überkommen hatten, als er zum erstenmal begriff, daß hinter seiner Lehrzeit ja ein ganz aktueller Zweck, eine gezielte Absicht steckte, hinter diesem zermürbenden, endlosen öden Drill: Daß nämlich von ihm eines Tages erwartet wurde, an die Stelle seines Vaters zu treten und alle seine beruflichen Aufgaben zu erfüllen wie er. Er war damals so um die vierzehn gewesen. Und als er zwanzig war, war sein Vater tot, und er selber war der Doktor.
    »Hör mal, mach dir deswegen keine großen Gedanken«, sagte Lawler. »Mir wird schon nichts passieren. Aber wir müssen eben mit dem Schlimmsten rechnen, Jose. Du und ich, wir verfügen über das gesamte medizinische Wissen, das es in der Kolonie gibt. Wir haben die Pflicht, es zu bewahren.«
    »Ja. Natürlich.«
    »Also gut. Das bedeutet, wir werden in verschiedenen Schiffen reisen. Verstehst du, was ich damit meine?«
    »Ja. Ja, ich verstehe«, sagte der Junge. »Ich würde zwar lieber bei dir bleiben, aber ich versteh es wirklich.« Er lächelte. »Wir wollten heute über Pleuralinflammation arbeiten, oder?«
    »Über entzündliche Prozesse des Brustfells, ja«, erwiderte Lawler und entfaltete seinen zerlesenen, verblichenen Anatomischen Atlas. Jose beugte sich vor, wach, aufmerksam, voll Lernbegierde. Der Junge war wirklich inspirierend. Er gemahnte Lawler an etwas, das er in der letzten Zeit fast vergessen hätte, daß sein Beruf mehr war als nur ein Job: Es war eine Berufung... »Entzündungen und Pleuralergüsse sind dran, beide. Symptomerkennung, Genese, therapeutische Maßnahmen.« Er hörte im Hinterkopf die Stimme seines Vaters, tief, gelassen, unerbittlich, dröhnend wie ein großer Gong. »Ein plötzlich auftretender stechender Brustschmerz beispielsweise...«
    DELAGARD SAGTE: »Es tut mir leid, aber ich hab keine übermäßig guten Neuigkeiten.«
    »Oh?«
    Sie befanden sich in Delagards ‚Büro’ auf der Werft. Und es war Mittag, Lawlers gewohnte Pausenzeit zwischen den Sprechstunden. Delagard hatte ihn gebeten, er möge vorbeischauen. Auf dem Holzkelp-Tisch stand eine bereits geöffnete Flasche Beerenkrautschnaps, doch Lawler hatte es abgelehnt, mitzutrinken. Nicht während der Arbeitszeit, hatte er erklärt. Er hatte sich stets bemüht,  einen klaren Kopf zu bewahren, wenn er Patienten erwartete (abgesehen natürlich von den Schlückchen Taubkraut-Elixier, und das, sagte er sich, schadete ja dabei nicht. Wenn es überhaupt einen Einfluß hatte, dann höchstens den, daß er klarer denken konnte).
    »Ich hab inzwischen ein paar Reaktionen, leider keine guten. Velmise verweigert uns die Aufnahme, Doc.«
    Es war, als hätte man ihn in den Unterleib getreten.
    »Das haben sie dir mitgeteilt?«
    Delagard schob ein Blatt Nachrichtenpergament über den Tisch. »Vor ‘ner knappen halben Stunde hat mir Dag

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