Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe
Handlung, die Entwicklung einer Idee – oder auch nur am Anfang anfange. Die Wirklichkeit ist anders. In der Wirklichkeit fängt nichts an der richtigen Stelle an und bricht alles ohne Ende ab. Weit eher als ein konventioneller Roman von heute entspricht ihr die Struktur des vormodernen Epos als einer Sammlung aus tausend Einzelgeschichten, die sich mehr und oft weniger geschmeidig in den Plot einfügen. Man merkt es daran, daß man als Leser beinah überall einsteigen kann, sofern man die Handlung in Grundzügen kennt. Dieses Erzählprinzip ist älter als der Don Quijote ; es manifestiert sich im Dekameron , in der Göttlichen Komödie und natürlich in der literarischen Tradition des Orients und des Andalus, die Cervantes ebenso explizit aufgreift wie vor ihm Dante oder Boccaccio – und nach ihm Jena Paul:
Diesen romantischen Polyklets-Kanon und Dekalogus, dieses herrliche Linienblatt haben die meisten Deutschen entzweigerissen, und sogar in den Märchen von 1001 Nacht find’ ich die Allmacht des Zufalls schöner mit moralischen Mitteltinten verschmolzen als in unsern besten Romanen, und es ist ein großes Wunder, aber auch eine ebenso große Ehre, daß meine Biographien hierin ganz anders aussehen, nämlich viel besser. 23
Modern am Don Quijote ist nicht sein Weltentwurf, sondern dessen Scheitern, ist nicht die literarische Form an sich, sondern daß sie zum Zitat und damit gebrochen wird. Indem Cervantes den Roman als Übersetzung eines arabischen Schriftstellers ausgibt, den er auf dem Markt von Toledo erworben haben will und dann noch einen zweiten, angeblich später entstandenen Teil anhängt, darin alle Protagonisten bereits den ersten Teil der Geschichte kennen, spielt er mit den literarischen Behauptungen, den Wirklichkeitsebenen, der Aufnahme seines eigenen Werkes wie Jean Paul die Roman-Manufakturisten, künftigen Rezensenten und lieben Leser vorführt. Das heißt, der moderne Roman beginnt, wo er seine Romanhaftigkeit herausstellt und sich damit negiert. Nicht zufällig nennt Jean Paul seine Romane gern Biographien, weil in Biographien nichts vorherzusehen ist. In einem Roman ist es unwahrscheinlich, daß sich auf Seite 200 etwas Gravierendes ereignet, was weder vorher noch nachher irgendeine Bedeutung hat. Im Leben geschieht es andauernd. Romane beruhen auf Wahrscheinlichkeiten, damit auf einer Ordnung. Die Wirklichkeit hingegen scheint voller Zufälle. Jean Pauls Romane sind die Behauptung, daß die Zufälle, die für den Romanschreiber und die anderen Figuren keine Struktur ergeben, sich für den Leser zu einer Ordnung fügen. Darin sind sie ein religiöses Unterfangen. Der Roman, den ich schreibe, ist die Behauptung, daß die Zufälle, die für den Romanschreiber und die anderen Figuren keine Struktur ergeben, sich für den Leser zu einer Ordnung fügen. Darin ist er ein religiöses Unterfangen.
Erstaunlich bleibt die immense, nur mit dem Erfolg des Werthers vergleichbare Popularität, die Jean Pauls frühen Romanen und speziell dem Hesperus sofort nach Erscheinen zuteil wurde. Das bedeutet, daß die Erwartungshaltung des breiten Publikums noch nicht auf Identifikation und Spannung ausgerichtet war, wie wir es seit langem voraussetzen. So sehr die Buchhandelsketten und die Literaturkritik, die ihnen zuarbeitet, das Erzählen nach dem Illusionsmodell jener amerikanischen Filme protegieren, wie amerikanische Filme oft gar nicht mehr sind, ist doch die gegenläufige Bewegung unübersehbar. Das natürliche Medium, die Welt in der Unordnung zu erfassen, wie sie in unsere Wahrnehmung tritt, scheint das Internet zu sein, das Schreiben in Echtzeit ermöglicht. Wie fragwürdig die Behauptung ist, ich zu sagen, die im Netz so leicht fällt und vollends zum Witz wird, wenn man anonym bleibt, zeigt sich spätestens, wenn der Blog gedruckt wird, gar mit der verkaufsfördernden Gattungsbezeichnung Roman. Ohne Form ist es Geplapper, Unmittelbarkeit die schwierigste Kunst. Unmittelbar ist die Lüge. Die Zeit, gegen die sich der Blog behaupten will, vernichtet ihn spätestens als Buch. Ich glaube, irgendwo hier liegt der Impuls Elfriede Jelineks, ihren letzten, in vielerlei Hinsicht vielleicht sogar bedeutendsten Roman, der fortlaufend im Internet erschienen ist, nicht zu drucken, und der Grund, warum umgekehrt andere Autoren nichts mehr zu sagen haben, seit sie mit dem Blog ein zu simples Format fanden. Die Literatur kennt keine Abfälle. Jedenfalls lehren das Alte Testament und der Koran, daß alles
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