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Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe

Titel: Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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Setzers gelungen.
     
    Am Ende sollte ich mich eigentlich fast darüber erfreuen. 26
     
    Er schreibe wie ein spazierender Hund, klagten Jean Pauls Kritiker schon zu seinen Lebzeiten. Aber selbst viele Verehrer Jean Pauls haben die handwerklichen Schwächen seiner Romane eingeräumt, die Kuriositäten im Aufbau, die mangelnde Dichte, die fehlende Stichhaltigkeit der Motive und deren kunstlose Verschlingung, zumal Jean Paul selbst immer wieder den Eindruck weckt oder es sogar offen ausspricht, daß seine Romane der Überfülle seiner Einfälle und Gesichte nur eine notdürftige Form geben. Gewiß ist Jean Paul als Romanschreiber seinen auch spontanen Einfällen und Gesichten gefolgt, sind seine Abschweifungen tatsächlich Abschweifungen und nicht von vornherein geplante Handlungsunterbrechungen. Er aß, wenn er hungrig war, und schlief bei Ermüdung. Wenn ein Ereignis, ein Gedanke oder auch nur eine Unpäßlichkeit ihn ablenkte, dann erlaubte es die Form seines Romans, eben dieses Ereignis, den Gedanken oder auch nur die Unpäßlichkeit zu schildern, die ihn ablenkte. Als Romanschreiber vertraut Jean Paul also Gott. Daß er dennoch seine Kamele anbindet, das hat der Germanist Herman Meyer in einem glänzenden Aufsatz bereits 1963 bis in die Komposita einzelner Metaphern nachgewiesen. Hinter dem, was dem Leser wahllos erscheint, stehen präzise Entscheidungen.
    Wie genau gefügt gerade das Ungefügte ist, wird mich voraussichtlich am fünften Dienstag beschäftigen und möchte ich zum Schluß der heutigen Vorlesung anhand der Entstehungsgeschichte seiner Romane nur kurz illustrieren. So ist die berühmte Verlesung des Testaments am Anfang der Flegeljahre , die viele Leser verwirrt, weil sie zuerst so prominent plaziert ist, im weiteren Verlauf jedoch über weite Strecken keine Rolle mehr spielt, ein sehr später Zusatz, der Jean Paul offenbar dazu diente, der Handlung den Anschein zu geben, auf ein Ziel gerichtet zu sein. In einen Zusammenhang mit allen oder auch nur den wesentlichen Vorgängen des Romans wollte Jean Paul das Motiv nicht bringen – kein Wunder, wenn ich als Leser vergeblich nach Zusammenhängen suchte. Jean Paul selbst macht sich über diese Verwirrung sogar lustig, wenn er einmal bedauert, daß der Leser die sechste Klausel des Testaments, die die neun Verpflichtungen des Erbens enthält, nicht auswendig beherrsche, weil auf dieser Klausel »doch gerade die Pfeiler des Gebäudes stehen«. 27 Indem sich der Roman als unvollendet deklariert, spielt er mit der Möglichkeit, daß die Testamentsbedingungen in der Fortsetzung die Rolle spielen, die ihnen der Einleitung nach zukämen. Es gehört zum Wesen der Romane, die Jean Paul schrieb, daß sie unabgeschlossen scheinen, ihre Handlung ins Offene und Unbestimmte ausklingt. Auch der Roman, den ich schreibe, wird, so oft sein Erscheinungstermin noch verschoben werden mag, endlich abbrechen müssen, damit der Vertrag sich erfüllt, weil sonst alles immer sich weiter fort entwickelt wie der Bürocontainer, der am 3. April 2007 um 11:23 Uhr zweihundert Kilometer entfernt wegen des neuen Regals von der Wand wegrücken mußte und sich bis in die Frankfurter Poetikvorlesung verwickelte, die der Romanschreiber oder ich am 11. Mai 2010 bis 19.22 Uhr an dem Pult, an dem Theodor W. Adorno stand oder nicht stand, über Jean Paul hielt, der unter der Schreibtischplatte des toten Schreiners lag oder nicht lag. Möge dessen Seele ebenfalls froh sein.
    Ich danke Martin Rentzsch vom Schauspiel Frankfurt, der seine Stimme heute und in den kommenden Wochen Jean Paul leiht. Und ich danke Ihnen, meine sehr verehrten Hörerinnen und Hörer, für Ihre Aufmerksamkeit und würde mich freuen, Sie am kommenden Dienstag wiederzusehen, wenn ich, so Gott will, über Hölderlin sprechen werde in dem Roman, den ich schreibe.

2. Vorlesung (18. Mai 2010)

 
     
    Meine sehr verehrten Hörerinnen und Hörer,
     
    warum Hölderlin? Weil jemand, der in dem Roman, den ich schreibe, oft Enkel, sonst Sohn, Vater, Mann, Liebhaber oder Freund, hin und wieder Romanschreiber, regelmäßig Berichterstatter, dann wieder Orientalist, ein Jahr lang die Nummer zehn, an einigen Stellen Navid Kermani und seit diesem Semester auch Poetologe genannt wird, am 8. Juni 2006 durch einen Zufall, der nicht plausibler als die Tischplatte des toten Schreiners ist, auf eine herabgesetzte Gesamtausgabe von Hölderlin stößt, zwölf Bände für 49,99 Euro zuzüglich Versandkosten, und ein solches Schnäppchen als

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