Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe
Wink begreift, es noch einmal mit dem Hyperion zu versuchen. Freilich ist kein Wort wahr, zitierte ich in der ersten Vorlesung Jean Paul, aber da andre Autoren ihre Romane gern für Lebensbeschreibungen ausgeben: so wird es mir auch diesen Dienstag verstattet sein, zuweilen meiner Lebensbeschreibung den Schein eines Romans zu geben.
Auf Goethe dürfen deutsche Literaten pfeifen, auf Schiller, Rilke, Celan und Thomas Mann, selbst bei Kleist und Kafka wird Achselzucken toleriert, nur Hölderlin findet niemand beschissen. Nein, der Romanschreiber, um ihn in der zweiten Vorlesung wieder so zu nennen, wenn ich nicht jedesmal auch vom Sohn, Vater, Mann, Liebhaber, Freund, Berichterstatter, Handlungsreisenden, Orientalisten, der Nummer zehn oder dem Poetologen sprechen möchte, der Romanschreiber findet Hölderlin nicht beschissen, das ist das falsche Wort, so spricht er nicht und denkt er nicht einmal. Ich möchte nur veranschaulichen, wie ungehörig sich die Respektlosigkeit gerade vor Hölderlin ausnimmt. Alle anderen darf man verulken oder verächtlich machen, bei allen gäbees Gründe, die die Liebhaber nicht begreifen, die Buchhalter nicht vorsehen, die einen gleichwohl nicht diskreditieren, im Gegenteil womöglich sogar interessant erscheinen lassen. Er zieht Lessing durch den Kakao! schreiben sich Jungdichter seit jeher gern auf die Fahnen, Langweil mich bei Eichendorff! ist auch den Älteren nicht peinlich. Anders Hölderlin. Ausgerechnet dieser früh ausgeflippte Sonderling, den Goethe stets abwimmelte, ist der kanonische deutsche Dichter.
Wie alle Literaten, die Hölderlin nicht ausstehen können, redet sich auch der Romanschreiber damit heraus, daß Hölderlin ihm fremd geblieben sei, er nicht so viel mit Hölderlin anfangen könne oder er es nicht so mit Hölderlin habe. Natürlich ist der Hyperion brillant, das bestreitet er so wenig, wie jemand von einem feinen Perserteppich behauptet, grob gewebt zu sein. Aber selbst der kostbarste Teppich kann scheußliche Farben oder Muster haben. Er sieht, wieviel Philosophie und Gedankengeschichte der Hyperion bündelt, leugnet nicht den Wohlklang der Sprache, das Gefällige des Rhythmus, allein, es läßt ihn so kalt wie bei der ersten Lektüre vor zwanzig Jahren, wenn er nicht sogar kichern muß über die Anzahl der Erregungsbeschleuniger, die Hölderlin auf einer einzigen Seite unterbringt. Als ob Erregung bedeutet, über die Liebe zu philosophieren. Erregung ist Sex, ist Angst, ist Zweifel, Herzpochen, steifer Schwanz und feuchte Möse, Erregung ist, noch die Pißreste in ihrer Unterhose für Parfüm zu halten. Und von Liebe, verehrter Hölderlin, von Liebe sprich bitte erst, wenn deine Wallungen sich gelegt haben, wenn ihr euch gestritten und vor allem gelangweilt habt, wenn deine Liebe mit offenem Mund neben dir schnarcht, ihre Gesichtszüge unangenehm an ihre Mutter erinnern und dir damit ihre, eure Zukunft vor Augen führen, ihr Schweiß dich nicht mehr erregt und der Geschmack des Urins, den du aus ihrer Möse geleckt hast, noch Stunden auf deiner Zunge liegt, dann erst, dann sprich über Liebe, Hölderlin – meint der Romanschreiber, der in seinen eigenen Romanen zwanghaft zu Peinlichkeiten und einer Fäkalsprache neigt, wo immer er über die Liebe schreibt. Einmal wenigstens spricht ihm Diotima aus dem Herzen, als Hyperion wieder eine halbe Seite buchstäblich ohne Punkt und Komma von dämmerndem Götterbilde, Idol meiner Träume, Hoffnung meines Herzens, Othem deiner Brust stammelt und sich gar, weil ihresgleichen geworden, in einem Ekstaseschrei zum Gott ausruft, der mit der Göttin spiele:
Aber etwas stiller mußt du mir werden, sagte sie. 1
Ja, ja, ja! Wer will schon einen Liebhaber hören, der im Bett nur himmlisch! göttlich! rufen würde, und wie eine Frau anmutig finden, die definitiv keinen Zungenkuß beherrscht. Blümchensex ist das, Bildungsonanie und Pennälerromantik, die Märchen aus Tausendundeiner Nacht im Vergleich so lebensnah wie Bergmans Szenen einer Ehe , die der Romanschreiber gleich Aufziehpuppen mit seiner Frau nachspielte, bevor der Roman einsetzt, den ich schreibe. Bestimmt verdankt sich sein Mißmut auch dem Eindruck, daß im Sommer 2006 alle Szenen seiner Ehe ausgespielt sind, ohne daß der Film zu Ende geht, die Liebe am Boden, zugleich die Frau schwer erkrankt, so daß der Gedanke an Trennung nicht ausgesprochen werden darf. Den Schweiß seiner Frau roch er zum letzten Mal auf der Intensivstation, den Urin ihrer Möse
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