Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe
Vorlesung das – es sei Ihnen geklagt – überaus schwer vorzutragende Manuskript mit seinen elend paradoxalen Satzstrukturen, die Jean Pauls Muster nachahmten, recht ordentlich gelesen, schien mir.
Hingegen in der zweiten Vorlesung, die ich ungleich ruhiger begann, war ich bald so angespannt, daß ich als Bogenschütze die Sehne durchgerissen hätte. Das hatte seinen Grund vor allem darin, daß direkt vor mir in der ersten Reihe KD Wolff saß, der Verleger der eigentlichen, der Frankfurter Hölderlin-Ausgabe, der mir jedesmal grimmige Blicke zuwarf, wenn ich von der Leseausgabe schwärmte, die ich, nein: die doch nur der Romanschreiber für 49,99 Euro zuzüglich Versandkosten zufällig im Internet entdeckt hatte. Das war so nicht vorgesehen. Vorgesehen war für die zweite Vorlesung ursprünglich, daß KD Wolff neben mir steht und die Hölderlin-Zitate liest, so hatten wir es vereinbart, aber dann kam eine Reise nach Prag dazwischen, die er nicht aufschieben konnte, so daß Isaak Dentler, der ab der heutigen dritten Vorlesung Hölderlin lesen sollte, freundlicherweise auch die zweite Vorlesung übernahm. Hätte KD Wolff vergangene Woche neben mir gestanden, hätte ich – es wäre unhöflich gewesen – niemals so ausführlich über das Schnäppchen gesprochen, dessen Veröffentlichung er angeblich sogar verhindern wollte, sondern die Vorlesung auf die eigentliche, die Frankfurter Ausgabe zugeschnitten, so daß es schon charmant gewesen wäre, dachte ich, wenn ausgerechnet KD Wolff Hölderlin gelesen hätte in der Vorlesung, in der ich über die Frankfurter Ausgabe und damit auch über KD Wolff gesprochen hätte. Ich wußte ja, daß KD Wolff nicht allen meinen Leseeindrücken zustimmt, und stellte es mir im Sinne von Jean Pauls V-Effekten um so reizvoller vor, daß er, während ich Ihnen die Leseeindrücke vortrage, durch Mimik oder Zwischenkommentare zu verstehen gibt, daß ich nur Unsinn rede. Das war jedenfalls mein genialischer Einfall, dessen Realisierung schließlich an dem Termin KD Wolffs in Prag scheiterte, der nicht aufzuschieben war. Als klar war, daß ich die zweite Vorlesung also ohne KD Wolff bestreiten sollte, war mir auch klar, daß ich nicht ausführlich auf die Frankfurter Ausgabe eingehen, sondern mich vor allem auf das Schnäppchen beziehen würde, das in dem Roman, den ich schreibe, die tragendere Rolle spielt.
Am Mittag vor der Vorlesung erfuhr ich jedoch, daß KD Wolff irgend etwas dazwischen gekommen und er gar nicht nach Prag gefahren war, so daß er abends meine Poetikvorlesung besuchen konnte. Allein, ich hatte das Manuskript bereits geschrieben, in dem ich von dem Schnäppchen schwärme statt von der eigentlichen, der Frankfurter Ausgabe, und es war viel zu spät – ich mußte zum Bahnhof –, um noch etwas an der Vorlesung zu ändern. Ich freute mich ja auch darauf, KD Wolff kennenzulernen, ich empfand seine Anwesenheit als eine Ehre, gleichwie letzte Woche einige von Ihnen geschmunzelt haben, als ich das sagte, ich freute mich sehr und machte mir nicht weiter Gedanken, als ich in den Zug nach Frankfurt stieg.
Als ich jedoch an diesem Pult stand mit KD Wolff vor mir in der ersten Reihe, der mir grimmige Blicke zuwarf, wann immer ich über das Schnäppchen sprach statt über die eigentliche, die Frankfurter Ausgabe, merkte ich, daß meine Worte sich nicht in die Situation fügten, die durch seinen Besuch entstanden war, und wurde so nervös, daß ich mich dauernd verhaspelte und jedesmal zum Wasserglas griff, wenn Isaak Dentler Hölderlin las. Deshalb habe ich diese Extrazeilen eingefügt, die gleich zu Ende gehen: Nicht nur, damit Sie den Hörsaal verlassen konnten ohne Sorge, jemanden zu stören, sondern weil meine Nervosität der Poetik des Romans entsprach, den ich schreibe. Ich folgte in der vergangenen Woche nicht dem, was sich von selbst ergab, sondern fuhr trotz der veränderten Umstände fort, wie ich es beabsichtigt hatte. Um es mit dem Zen-Meister Baso Matsu zu sagen, den ich entsprechend meiner Poetik mindestens einmal noch unterbringen muß, da ich ihn am ersten Dienstag eingeführt habe: Ich schlief nicht, als ich müde war, und aß nicht, was überraschend auf den Tisch gekommen.
Und doch habe ich als Romanschreiber einen Vorteil gegenüber dem Leben: Indem ich das Mißgeschick in die dritte Poetikvorlesung und damit in den Roman aufnehme, den ich schreibe, lasse ich aus der Entwicklung eine Verwicklung erwachsen und verwandele ich das Wirkliche zum Idealen. Wenn sie
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