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Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe

Titel: Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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genauso »Ich« sagen und die Welt sozusagen viele Mittelpunkte hat. Mit dem Selbstbewußtsein wird sich das Kind zugleich bewußt, daß jeder Mensch, der »Ich« sagt, auf sich selbst Bezug nimmt. Es versteht, daß »Ich« nicht das gleiche wie ein Name ist und sie nicht auf dieselbe Weise verwendet werden. Wer »Ich« zu sagen lernt, entdeckt zugleich, daß die Welt aus anderen Ichs besteht, denn gäbe es nur mich, hätte das Wort keine Bedeutung. Das Ich, das sich mit dem Bewußtsein seiner selbst auch anderer Ichs bewußt wird, beginnt damit bereits, die eigene Wichtigkeit zu relativieren, bis in höherem Alter der schon sprichwörtliche Anblick des bestirnten Himmels am Ende von Kants Kritik der praktischen Vernunft »gleichsam meine Wichtigkeit« vernichtet. 23 Oder mit Jean Paul:
     
    Wenn ihr wüßtet, wie wenig ich nach J.P.F. Richter frage; ein unbedeutender Wicht; aber ich wohne darin, im Wicht. 24
     
    Was in den Versen des achtzehnjährigen Hölderlin nach pubertärer Aufklärung oder wie ein betrunkener Fichte klingt, hat tiefere Wurzeln, die bis zu Spinoza, der christlichen Mystik und der Kabbala reichen, um nur jene Traditionslinien zu nennen, mit denen Hölderlin sich nachgewiesenermaßen in der Bibliothek des Tübinger Stifts beschäftigte. Eben hier, in dieser Folge: Bewußtsein, Relativierung und Auflösung der Subjektivität, liegt für mich und meinetwegen nur für mich in meiner Zeit, Not und Ahnungslosigkeit die Verbindung zwischen Jean Paul und Hölderlin: Aus einem Namen wird ein Ich – nicht einmal der Name wird vom Ich bleiben. Und so treffen sich Hölderlin und Jean Paul, die so unterschiedlich sind, als seien sie zwei Dichter verschiedener Epochen, Sprachen, Kulturen, so treffen sie sich wie zwei elliptische Kurven, die sich zum Kreis schließen: nicht die Welt stellen sie dar, sondern das Ich, das Welt ist, literaturgeschichtlich begriffen das alte Motiv der Seelenreise durch Himmel (bei Hölderlin) oder Erde (bei Jean Paul) zu sich selbst.
    Wenn ich an dieser Stelle nicht schon wieder mit dem Sufismus anfangen soll, an den ich als Orientalist bei dem Motiv der Seelenreise sofort denke, gelingt es mir vielleicht, den Gang der Erkenntnis, der sich über vierzig Tage oder vierzig Jahre, einen Roman oder ein Gesamtwerk, einen einzigen Traum oder ein ganzes Leben erstrecken kann, mit Jean Pauls Begriff des Romantischen näher zu bestimmen, um vor den Germanisten wenigstens meine Scham zu bedecken wie Adam und Eva nach dem Biß, der ihnen nicht zustand. Denn natürlich habe ich darüber nachgedacht, welche Bedeutung die Tonstörung der vergangenen Woche hatte, als hier über Minuten eine Vorlesung aus dem Nachbarsaal zu hören war, schließlich würde ich keine Vorlesung über den Zufall halten, wenn ich tatsächlich an ihn glaubte. Jedenfalls in dem Roman, den ich schreibe, kann es kein Zufall gewesen sein, daß ich ausgerechnet dort unterbrochen wurde, wo ich Hölderlin, aus dem Zusammenhang der Antike und der deutschen Klassik heraushebend, in den Zusammenhang der mystischen Literatur stellte, der christlichen Mystik, gewiß, aber durch deren Wesensverwandtschaft mit anderen mystischen Literaturen auch in den Zusammenhang des Sufismus. Nein, das war nicht einfach eine Tonstörung, das war auch nicht KD Wolff zornig auf mein Schnäppchen, denn KD Wolff hatte ich vorsorglich in die erste Reihe gebeten, nein, das war todsicher ein Germanist, der an den Reglern saß, um die Übertragungsfrequenzen der Headsets zu vertauschen, das war ein Germanist dieser oder einer anderen Universität, der sich nicht länger anhören wollte, wie ein dahergelaufener Schriftsteller und Orientalist als Semesterpoetologe Hölderlin zum Sufi der deutschen Literatur erklärt.
     
    Bei meiner Seele! so etwas sollte man drucken lassen
     
    ruft einmal jemand in der Unsichtbaren Loge , der Rittmeister des heranwachsenden Gustav.
     
    Und wahrhaftig, hier lässet man es ja drucken 25
     
    werde ich mit Jean Paul sagen, wenn ich in dem Roman, den ich schreibe, also einen Germanisten erfinde, der sich während der Poetikvorlesung des Romanschreibers in den Schaltraum stiehlt, um die Frequenzen der Headsets zu vertauschen. Und was glauben Sie erst, verehrte Hörerinnen und Hörer, welche Entwicklungen dadurch in Gang gesetzt werden, daß in dem Nachbarsaal plötzlich Hölderlin zu hören ist!
    Ich belasse es hier bei dieser Andeutung, da ich in dem Roman, den ich schreibe, noch nicht bei der dritten Poetikvorlesung

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