Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe
sogar sagen: ist der Schrecken, den Hölderlin wahrscheinlich konkreter als jeder anderer Dichter seiner Zeit erlebte.
Doch uns ist gegeben,
Auf keiner Stätte zu ruhn,
Es schwinden, es fallen
Die leidenden Menschen
Blindlings von einer
Stunde zur andern,
Wie Wasser von Klippe
Zu Klippe geworfen,
Jahr lang ins Ungewisse hinab. 29
Daß Geburt und Tod Passagen sind, die aus der Endlichkeit hinausweisen, das haben wohl alle Autoren gesehen, die der deutschen Romantik im engeren Sinne der Germanistik zugerechnet werden – »Geboren werden und Sterben sind solche Punkte, bei deren Wahrnehmung es uns nicht entgehen kann, wie unser eigenes Ich überall vom Unendlichen umgeben ist«, sagt es Schleiermacher in der dritten Rede über die Religion. 30 Über den Tod, der dem Roman, den ich schreibe, zunächst den Namen gab, werde ich, so Gott will, kommenden Dienstag in der vierten Vorlesung sprechen, dann vor allem mit Blick auf Jean Paul. Im letzten Teil der heutigen Vorlesung möchte ich bei jener Passage bleiben, die ins Endliche führt. Ich möchte von einer Geburt berichten, die in dem Roman, den ich schreibe, etwas über Hölderlin sagt. Zuvor habe ich freilich eine Bitte an Sie, verehrte Hörerinnen und Hörer.
Die ersten beiden Vorlesungen habe ich von dem Pult aus, an dem Theodor W. Adorno also nun wirklich nicht gestanden haben kann, wie mir einige von Ihnen sagten oder sogar schrieben – habe ich mit Blick auf die große Uhr beobachtet, daß ziemlich genau um fünf nach sieben eine Reihe von Hörerinnen und Hörern aufstanden und so diskret, wie es die Höflichkeit nur verlangen kann, den Hörsaal verließen. Vielleicht hatten sie angenommen, daß die Vorlesung nur bis sieben Uhr dauert oder war ihre Geduld nach einer dreiviertel Stunde aufgebraucht, vielleicht mußten sie zur Bahn oder ihren Kindern oder hatten sonst etwas zu tun, das dringender war als eine Vorlesung über den Roman, den ich schreibe. Ich kann das verstehen, bin ich doch selbst oft genug aus den Vorlesungen meines ersten Philosophieprofessors geschlichen, der uns Hölderlin vortrug,
Wer nur mit ganzer Seele wirkt, irrt nie 31
der Philosophieprofessor selbst hätte es verstanden, der seine Seele lieber ganz auf Kreta baumeln ließ, und so bin ich auch wirklich niemandem böse, sondern dankbar dafür, daß Sie überhaupt gekommen und immerhin die reguläre Zeit ausgeharrt haben. Ich habe nur eine Bitte: Wenn Sie auch heute die Vorlesung um fünf nach sieben aus diesem oder jenen Grund verlassen möchten, dann tun Sie es bitte jetzt, weil ich gleich wieder in die dritte Person wechseln werde, was wie gesagt ein Signal dafür ist, daß es auf das Ich ankommt, und es mich ehrlich gesagt nervös macht, wenn jemand mir den Rücken zuwendet, während ich etwas vortrage, das für mich selbst – obwohl ich jede Erklärung unterschreibe, nur ein Wicht zu sein, ach was: ein Wichtelchen, wenn sogar ein Riese wie Jean Paul ein Wicht ist – so existentiell ist, als spräche ich über die Geburt meines eigenen Kindes.
Um Ihnen Gelegenheit zu geben, den Hörsaal ohne Sorge zu verlassen, Sie könnten jemanden stören, schildere ich Ihnen in einer fünfminütigen Abschweifung, während der Sie ruhig aufstehen und sich in aller Form von Ihrem Sitznachbar verabschieden können, falls überhaupt noch jemand bleibt, warum ich letzten Dienstag so nervös war.
[Martin Rentzsch:] Extrazeilen über Navid Kermanis Nervosität!
Ich weiß nicht, ob Sie bemerkt haben, wie oft ich mich bei der letzten Vorlesung verhaspelte oder daß ich jedesmal zum Wasserglas griff, wenn Isaak Dentler Hölderlin sprach. Wenn man allein an diesem Pult steht vor so vielen Menschen, nimmt man das vielleicht viel stärker wahr, als es von den Sitzbänken aus wirkt, aber ich selbst war jedenfalls ungleich nervöser als bei der ersten Vorlesung, obwohl eine Premiere gewöhnlich viel aufregender ist, zumal für jemanden wie mich, der nie ein Germanistikseminar besuchte und nun gleich die traditionsreiche Frankfurter Poetikvorlesung hält, die ein Idol mit initiierte, aber bei der Premiere näherte ich mich im Laufe der Vorlesung zunehmend jenem Bogenschützenmaß an Spannung, durch das alles leicht wird, im Rahmen meiner begrenzten rhetorischen Fähigkeiten leicht, versteht sich. Ich weiß selbst am besten, daß ich kein guter Redner bin, daß ich zu schnell, zu undeutlich spreche, aber für meine bescheidenen rednerischen Verhältnisse habe ich in der ersten
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