Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe
kleingeschrieben, jene Hörerinnen und Hörer, die bereits nach Hause gegangenen sind, sich in Ruhe von Ihrem Sitznachbarn verabschieden konnten, und Sie großgeschrieben, die geblieben sind, die kühlende Methode vor dem melodramatischen Finale amüsiert hat, wäre aus dem Mißgeschick doch noch eine Fügung geworden.
[Martin Rentzsch:] Ende der Extrazeilen über Navid Kermanis Nervosität!
Gut, wenn alle draußen sind, kann ich mit dem Vater beginnen, um den Romanschreiber in der dritten Vorlesung einmal so zu nennen, wenn ich nicht jedesmal auch vom Enkel, Sohn, Mann, Liebhaber, Freund, Berichterstatter, Orientalisten, der Nummer zehn, Navid Kermani oder dem Poetologen sprechen möchte.
Drei Tage, nachdem er am offenen Grab das rituelle Totengebet für die Freundin rezitierte, deren Sterben der Roman, den ich schreibe, bis in die letzten Atemzüge verfolgt, und drei Monate vor dem berechneten Geburtstermin stellen die Ärzte im Perinatalzentrum der Universitätsklinik Köln um 20:15 Uhr fest, daß sich die Werte der Ungeborenen verschlechtert haben. Welche Werte? Irgendwelche Werte halt, er begreift es nicht, Entzündungswerte, Blutwerte, Säurewerte, was weiß er denn. Sie haben sich verschlechtert, diese Scheißwerte. Um 20:24 Uhr beschließen die Ärzte, nicht länger darauf zu hoffen, daß sich durch die Wehen, die sie durch Medikamente hervorrufen, der Gebärmuttermund öffnet. Nachdem die Eltern zwei Tage und anderthalb Nächte beschäftigungslos gewartet haben, fängt um sie herum plötzlich alles im Perinatalzentrum an zu rasen. Die professionelle Hektik der Ärzte, der Schwestern und der Hebamme, die in den Operationsbereich laufen, wo sie sich scheinbar auf Knopfdruck in grüne Männchen mit Mundschutz und weißer Haube verwandeln, schon im Weitergehen die desinfizierten Hände reiben, wirkt auf den Ahnungslosen bestürzend, der seine Frau an der Hand hält, während er neben ihrer Liege herrennt. Am meisten Sorgen macht ihm, daß die Ultraschallbilder auf eine Wachstumshemmung hindeuten. Davon war nie die Rede gewesen! würde er die Ärzte am liebsten anbrüllen. Überhaupt so Sätze, die in den zwei Tagen und anderthalb Nächten durch den Raum, die Flure und Telefonate schwirrten, ganz anders gemeint, nicht immer sie gemeint und doch von ihnen im schlechtmöglichsten Sinne verstanden: Die Natur sorgt selbst vor – wenn die Natur ein Kind für zu schwach hält, stößt sie es eben ab – das Wohl der Frau geht immer vor – im Rahmen des medizinisch Vertretbaren – das Menschenmachbare. Er merkt, daß die guten Argumente des Gynäkologen nicht ausreichen, um sich so sehr zu beruhigen, wie die Frau es benötigt, die unter einem grünen Tuch hervorlugt. Um 20:43 Uhr beschließt er, auf sein eigenes Fachwissen zurückzugreifen und darauf zu vertrauen, was größer ist. Hinter dem ebenfalls grünen Vorhang, der über ihrer Brust hochgezogen ist, damit sie die Operation nicht sieht, flüstert er der Frau ein Geburtsgebet ins Ohr, das er in Ableitung des Totengebetes spontan zusammenstellt, mehr ein Mantra als Worte, die er durchdenkt. Die Eltern sind miteinander verbunden, nein, in diesem Fall gilt es: wie zusammengeschweißt, fester als durch jeden Sex, der schon sehr gut lötet. Nach einigen Minuten, in denen er zugleich ruhiger und erregter wird – das klingt paradox, aber so ist’s, wie ein Zug kommt es ihm vor oder ein Flugzeug oder meinetwegen ein Gepard in höchster Geschwindigkeit am geschmeidigsten läuft, ja, genau so, ich sagte doch, daß Erkenntnis eine paradoxale Struktur hat –, nach einigen Minuten, in denen er das Bogenschützenmaß an Spannung austariert wie nie zuvor, hört er – erst den Arzt rufen: Wir ham’s – dann ein spindeldürres Schreien, mehr ein Hüsterchen, das den Raum lauter als Pauken und Trompeten erfüllt – dann mehrere Glückwünsche – dann eine Krankenschwester die Uhrzeit rufend. 21:27 Uhr. Es ist der 17. April 2007.
Der Körper der Frühgeborenen ist halb so lang wie der Unterarm der Krankenschwester, auf dem der Vater sie empfängt, ihr Kopf kleiner als die Fläche seiner Hand. – Wieviel Uhr ist es? fragt er die Krankenschwester, als sie ihm die Frühgeborene wieder abnimmt: Man verliert hier jedes Gefühl für Zeit. – Das höre ich oft, sagt die Schwester, die die Frühgeborene zurück in den Inkubator legt.
Es war eine Einzigperle von Minute, etwas, das nie da war, nie wiederkam; eine ganze sehnsüchtige Vergangenheit und
Weitere Kostenlose Bücher