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Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe

Titel: Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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Zukunft-Traum war in einem Augenblicke eingepreßt
     
    beschreibt Jean Paul seinen ersten, den schönsten Kuß als Erlösung von der Zeit. Der Vater strich den Satz beim Durchblättern der Selberlebensbeschreibung an, als er die Tischplatte des alten Schreiners, dessen Seele froh sein möge, auf den ersten Band der Dünndruckausgabe gelegt hatte, ohne sich weiter Gedanken zu machen, ohne den Satz zu vergessen, mehr wie eine Tonfolge sich einprägt, bis am 18. April 2007 jemand ihn erklärt. Die Frühgeborene erklärt den Satz, als der Vater sie küßt
     
    und im Finstern hinter den geschloßnen Augen entfaltete sich das Feuerwerk des Lebens für einen Augenblick und war dahin. 32
     
    Als eine Sonderausschüttung Glückshormone beschreibt er es auf dem Nachhauseweg einem Regisseur, mit dem er vom Fahrrad aus telefoniert. Alle Schauspieler gratulieren durch die Leitung so laut, daß der Vater die meisten Stimmen identifizieren kann. Am Samstag haben sie Premiere. Auch euch viel Erfolg.
    An einem weiteren Tage, dessen Maß tausend Jahre sind, deren die ihr zählt, geht dem Vater auf, warum es eine Sonderausschüttung ist. Die Geburt selbst ist im Leben nun einmal vorgesehen. So viel Glück hält es standardmäßig bereit, wenngleich manchen, vielen Menschen nicht einmal der Standard zuteil wird. Im Perinatalzentrum, das für den Ahnungslosen wie das Schöpfungslabor eines Science Fictions aussieht, ist keines der Babys eine Selbstverständlichkeit. Manche wiegen fünfhundert, sechshundert Gramm, sogar dreihundert Gramm haben die Ärzte einmal durchgebracht, drei Tafeln Schokolade leicht. Die Lokalpresse berichtete. Hier in Augen zu sehen, die sich öffnen, ist absolut kein Standard, sondern erscheint, muß wie ein Wunder erscheinen. Man sieht, ohne es begreifen, noch erklären zu können. Aber es ist da, es atmet, das ist das Wichtigste, es atmet in tiefen Zügen in seinem gläsernen Kasten, einer Nachbildung von Schneewittchens Sarg in Zwergengröße.
    Der Vater macht den Oberkörper frei und zieht den blauen Kittel verkehrt herum wieder an, also mit der offenen Rückseite nach vorn. Er legt sich in den Camping-Liegestuhl, den die Krankenschwester in der einzigen Ecke ausgeklappt hat, die nicht vollgestellt ist mit Apparaten. Dann legt die Schwester dem Vater die Frühgeborene mitsamt der Schläuche und Kabel auf die nackte Brust und deckt sie zu. »Känguruhen« nennt man den Vorgang im Jargon des Perinatalzentrums, wie der Vater aus der Kneipe bereits wußte, und die zwei Kumpel, die es selbst erlebt hatten, sprachen davon seliger als über den schönsten Rausch, die wildeste Nacht, den höchsten Sieg der Thekenmannschaft. Die münzgroße Wange der Frühgeborenen schmiegt sich an seine Haut, die fingerkuppenlangen Hände greifen in seine Brusthaare. Die Technik ringsherum läßt die Fragilität des Körpers grell hervortreten. Noch ihr Wohlfühlen und ihre dunklen Träume zeichnet der Monitor im Maße hundertster Sekunden auf.
    Als er neben der Sterbenden saß, achtete er genauso konzentriert auf ihren Atem. Die Sterbende schlief genauso fest und hatte ebenfalls Schläuche in der Nase. Jemand stirbt, jemand wird geboren. Auf beiden Stationen hat man die freundlichsten Krankenschwestern und sensibelsten Ärzte, die man sich wünschen kann, auf der Palliativstation wie im Perinatalzentrum. Auf beiden Stationen geht die Uhr anders, flüstert man eher, als daß man spricht, wird die nackte Funktionalität der Schläuche, Apparate, Monitore, Möbelstücke mehr schlecht als recht bedeckt durch das Dekor, dort das Holz, die Blumenkübel und die warmen Farben der Wände, hier die Teddybären, die auf den Steppdecken abgedruckt sind, die Herzform des Pflasters, mit dem die Magensonde auf der Wange der Frühgeborenen befestigt ist, die lustigen Aufkleber auf den Glassärgen.
    Beide Stationen haben ihre eigenen Riten, Ausdrucke, Tabuwörter, die man blitzschnell verinnerlicht. Im Perinatalzentrum ist »känguruhen« das Lieblingswort, »Brutkasten« dagegen verpönt. Beide Stationen weisen in eine andere Welt, sind U-Boote in die Metaphysik. Recht bedacht, ist der Mutterleib gar nicht so verschieden von den biblischen und koranischen Paradiesbeschreibungen, der Garten voller Teiche, die köstlichsten Trauben, die keine Armlänge von den Glücklichen entfernt von den Bäumen herabhängen, überhaupt Nahrung in Hülle und Fülle, körperliche Wonnen, Geborgenheit, wohlige Wärme. Geht es der Mutter schlecht, wird ihr Bauch

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