Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe
allerdings zur Feuergrube, Hunger, Enge, Angst, Atemnot und Hitze. Den Widerschein der Hölle meinte der Vater im Gesicht jener zu sehen, die siechen, ohne sterben zu dürfen. Den Besatzungen beider U-Boote wird, wenn sie ans Deck treten, Mitgefühl zuteil selbst oder gerade von Unbekannten, ja, von Passanten. Für ein paar Tage scheint die Besatzung zu leuchten. Es ist das gleiche Licht. Was es zum Vorschein bringt, ist nicht dasselbe. Es ist das Gegensätzlichste. Aber es ist der gleiche Mensch.
Mehr noch als gewöhnliche Babys haben Frühgeborene etwas Greisenhaftes. In den letzten Wochen einer regulären Schwangerschaft nehme ein Kind wenig an Länge, aber viel an Gewicht zu, erklärt es die Krankenschwester. Daß den Frühgeborenen aller Speck fehlt, macht ihre Gesichtszüge so fein, ihre Hände und Beine so schmal. Die Haut, so weich sie ist, runzelt sich an vielen Stellen. Außerdem die wenigen Haare, die fehlenden Augenbrauen und Wimpern, statt dessen Augensäcke. Die Augen, die sich mit größter Mühe öffnen, wie Müdigkeit derjenigen, die ewig schon leben. Dann schauen, ohne Gefühle zu verraten. Nur schauen: In Frieden, wie der Roman heißen sollte, den ich schreibe. – Was sieht sie? fragt der Vater die Krankenschwester, nachdem sie beide lange in die Augen der Frühgeborenen geblickt haben. Er vermutet, daß die Schwester Umrisse sagen wird, Konturen, Licht, Schatten, etwas in der Art. So hatte er es mal gelesen oder vom Augenarzt gehört, so liegt es für die Menschen nahe. Die Krankenschwester überrascht den Vater mit einer Antwort, die viel näher liegt: Keine Ahnung.
Welche Wesenheit hat sie? fragt er sich im Perinatalzentrum beständig. Sie ist nicht nur klein, ein Baby. Sie ist, bevor sie ein Baby wird. Der Frieden, den die ältere Tochter unmittelbar nach ihrer Geburt ausstrahlte, als der Vater sie durch den Kreißsaal wiegte, den alle oder viele Kinder ausstrahlen werden, die unter normalen Umständen zur Welt kommen, das Erfüllte, Weise, geradezu Altkluge bewahrt sich bei der Frühgeborenen. Da ist nichts, was auf einen Kampf hindeutete, kein Unwohlsein, keine Furcht, kein Zwist, schon gar nicht der Terror der Koliken, unter denen die Ältere bald nach ihrer Geburt litt, allenfalls im Schlaf ein Zucken, das auf einen Traum schließen läßt. Ihr Schreien, selten genug, klingt eher wie eine Benachrichtigung. Sie schaut den Vater an, als ob sie ihn prüfen würde, prüfen und durchschauen. Alle Kulturen kennen Engel. Sie sind jene Wesen, die das Jenseits verlassen, ohne die Erinnerung zu verlieren, und sich im Diesseits bewegen, ohne ihm anzugehören. Engel verkörpern die Möglichkeit eines Dazwischen. Sie sind im Himmel und auf Erden, sind vor der Geburt und nach dem Tod. Die Sterbende war zum Engel geworden. Die Frühgeborene ist es noch. Beide schenkten dem Vater die Ahnung jener vorzeitlichen Harmonie, über die Hölderlin im Grund zum Empedokles schreibt. Es geht dort um die Dialektik von »aorgischer«, also unendlicher, schöpferischer, unbewußter Natur und »organischer«, also organisierter, geschaffener, bewußter Kultur, die im Menschen zur Vollendung gelangen könnte. Dort, wo sie ins Organische, Künstliche umschlägt, also im Menschen, habe die Natur ihre »Blüthe«. Umgekehrt hat der Mensch, der sich noch im Einklang mit der Natur befindet, das Gefühl der Vollendung.
Aber dieses Leben ist nur im Gefühle und nicht für die Erkenntniß vorhanden. Soll es erkennbar seyn, so muß es dadurch sich darstellen, daß es im Übermaaße der Innigkeit, wo sich die Entgegengesetzten verwechseln, sich trennt, daß das Organische das sich zu sehr der Natur überließ und sein Wesen und Bewußtsein vergaß, in das Extrem der Selbstthätigkeit und Kunst, u. Reflexion, die Natur hingegen wenigstens in ihren Wirkungen auf den reflectirenden Menschen in das Extrem des Aorgischen des Unbegreiflichen, des Unfühlbaren, des Unbegrenzten übergeht, bis durch den Fortgang der entgegengesetzten Wechselwirkungen die beiden ursprünglich Einigen sich wie anfangs begegnen. 33
Bei dem Professor, der Hölderlin rezitierte, war das Philosophie, und zwar, weil er die Dialektik in der Hegelschen Fassung lehrte, die komplizierteste. Jetzt erscheint es dem Vater wie das grundsätzliche Prinzip des Werdens, als ob Hölderlin oder Hegel oder vor ihnen die Mystiker nur genau hingeschaut hätten: nicht auf das Leben, sondern auf ein Leben. Dabei hatten sie nicht die Einblicke, die heutzutage die
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