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Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe

Titel: Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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zu sitzen, gelegentlich im Lesesessel einzudösen oder auf der Matratze zu übernachten, wenn die Umstände es erlauben, damit ich am nächsten Tag früher beginne. Was würde die junge Frau vom Haus gegenüber denken, wenn sie durch welche Zufälle auch immer sich heute in den Hörsaal HZ2 der Goethe-Universität Frankfurt verirrt hätte? Würde sie dann einen Sinn darin erkennen, warum ich trotz des guten Wetters Fronleichnam am Schreibtisch verbracht habe und überhaupt in der Wohnung gegenüber immer am Schreibtisch sitze, wenn ich nicht im Lesesessel eindöse, würde sie die Notwendigkeit einsehen? Hallo, Frau Nachbarin, wenn Sie zufällig da sind, dann sagen Sie es mir bitte.
    Es ist ja mehr als nur Hybris, es ist vielleicht schon ein Fall für den Therapeuten, wenn man über Jahre so viele Stunden am Tag ausschließlich mit sich selbst beschäftigt ist, nur aus sich selbst schöpft, nur mit sich selbst spricht, nur auf den eigenen Bildschirm starrt, auf dem man sich immer nur selbst liest. Und darin soll die Welt sein? Ja, das ist mehr als nur Hybris, von den gegenüberliegenden Balkonen aus betrachtet ist vielleicht schon Selbstvergötterung dabei, nur ich selbst, ich nehme es natürlich ganz anders wahr und interessiere mich gar nicht für mich, sondern schreibe nur auf, was vor und hinter meinen Augen an mir vorüberzieht, und die Anmaßung, die ich zugebe, liegt nicht darin, daß ich mich selbst betrachte, das tue ich bestimmt nicht oder nur in schlechten Momenten, denn wenn schon Jean Paul sich für einen Wicht hält, was kann ich dann wohl sein?, ein Wichtelchen oder, um es heute auf die persische Weise zu sagen, der ich nicht einmal der Hund in der Gasse Jean Pauls bin, die Anmaßung liegt darin, daß ...
     
    Die Hunde sind die Nachtigallen der Dörfer. 13
     
    Wie bitte?
     
    Die Hunde sind die Nachtigallen der Dörfer.
     
    Herr je, dann eben: dann eben nicht der Hund, sondern der ich nicht einmal die Laus im Fell des Hundes in der Gasse Jean Pauls bin, die Anmaßung lie. . .
     
    Eine Laus hat mehr Ahnen als ein Elefant. 14
     
    Wie?
     
    Eine Laus hat mehr Ahnen als ein Elefant.
     
    Kann Jean Paul mich nicht einmal einen Gedanken zu Ende bringen lassen? Kann er sich nicht einmal ein Beispiel an Hölderlin nehmen, der nicht immer alles unterbricht. Ich frage mich, wie man nur mit einem Roman vorankommen will, wenn man nebenher Jean Paul liest.
     
    [Isaak Dentler:] Manchmal glaubt man, die Strömung hat einen erwischt. Man wird panisch weil man glaubt, man kommt nicht voran. Kommt man aber. Man muß sich nur auf den Rücken drehen. Ruhig atmen. Langsam treten. Man kommt voran.
     
    Ist das Hölderlin?
     
    [Isaak Dentler:] Nein, das ist aus dem Einpersonenstück von Simon Stephan, das um Punkt acht Uhr im Schauspielhaus beginnen soll.
     
    Keine Sorge, spätestens um fünf nach halb acht sind wir hier fertig.
     
    [Isaak Dentler:] So Gott will.
     
    Wo war ich rasch noch stehengeblieben?
     
    [Martin Rentzsch:] Wenn Jean Paul schon ein Wicht ist, was kann dann wohl Navid Kermani sein? Ein Hund, eine Laus ...
     
    . . . die Anmaßung liegt darin, daß ich von mir aus – aber von wo sonst? –, nur von mir aus am Schreibtisch vor dem Computer und vielen Büchern eine ganze Welt sehe, daß ausgerechnet von mir aus die ganze Welt betrachtet werden soll. Die Welt wäre genauso vollständig von jedem anderem Ich aus zu betrachten, das glaube ich ganz fest, nur daß die wenigsten Bericht erstatten. »Als ob die Wahrheit aus dem Leben eines solchen Mannes etwas anderes sein könnte, als daß der Autor ein Philister gewesen!« sagte Goethe über Jean Pauls postume Sammlung Die Wahrheit aus Jean Paul’s Leben . 15 Daß sein äußeres Leben in der fränkischen Provinz philisterhafte Züge trug, hätte wahrscheinlich nicht einmal Jean Paul selbst bestritten, nur wäre es ihm selbst nicht der Rede wert und ist es niemals der Gegenstand seiner Betrachtung gewesen.
     
    Mein Leben kann nur ich beschreiben, weil ich das Innere gebe; das von Göthe hätte ein Nebenherläufer beobachten und also mittheilen können. 16
     
    Goethe schrieb sein Leben auf, Jean Paul eines, in dem alles Leben sich fand.
     
    Das Ich gilt, aber nicht mein Ich. 17
     
    Die Weltzugewandtheit, die Jean Paul seinen Lesern empfahl, praktizierte er selbst nur am Schreibtisch. In seinen Zettelkästen und Romanen versenkte er sich in der Natur und den Menschen, vergaß sich im Schreiben wie Musiker in der Improvisation oder Mystiker im Tanz,

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