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Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe

Titel: Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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mit dem verwinkelten Sarg vorübergezogen ist, nimmt der Ich-Erzähler das Gespräch wieder auf:
     
    Und der, vor welchem die Millionen Paradiese durch die zahllosen Welten hin liegen, sollte keines aufmachen für ein jahrelang gequältes Wesen, das schuldlos aus dem gemeinschaftlichen Paradiese vertrieben außen an dessen Schwelle verschmachten und verdorren mußte?
     
    Die Frömmigkeit hier und die Häresie dort schließen sich in Jean Pauls letztem Roman zu jener häretischen Frömmigkeit Hiobs zusammen, die für mich auch die Frömmigkeit des Gekreuzigten wäre: Niemand ist sich Gott so sicher, als wer von Ihm verlassen.
     
    In Untersuchungen und Fragen über die Welt hinaus ist alles kühn und das Glauben noch kecker als Zweifeln. 25
     
    Obwohl auch Selina eine Reihe solcher Grauensbilder hat wie den Sarg, der nicht mehr auf einen menschlichen Körper schließen läßt, und der Romanschreiber altgeworden dem Weltenlauf kein menschliches Leid vergißt, drückt sich über alle Einwände hinweg ein Seelenfrieden aus wie im Gebet der sterbenden Mutter. Als Christ bestreitet, als Dichter besiegt Jean Paul den Zufall, in dem er sich ihm ergibt. Als Christ hält der Ich-Erzähler daran fest:
     
    Denn ohne einen Gott gibt’s für den Menschen weder Zweck, noch Ziel, noch Hoffnung, nur eine zitternde Zukunft, ein ewiges Bangen vor jeder Dunkelheit und überall ein feindliches Chaos unter jedem Kunstgarten des Zufalls. Aber mit einer Gottheit ist alles wohltuend geordnet und überall und in allen Abgründen Weisheit. 26
     
    Als Dichter schafft Jean Paul eine Welt, in der es weder Zweck noch Ziel, noch Hoffnung gibt, nur eine zitternde Zukunft, ein ewiges Bangen vor jeder Dunkelheit und überall ein feindliches Chaos unter jedem Kunstgarten des Zufalls. Mindestens die früheren, noch ganz anarchischen, das Hier und Jetzt bis hin zum Glockenschlag der Turmuhr aufnehmenden Romane, Die Unsichtbare Loge , Hesperus, Flegeljahre , Siebenkäs oder Das Leben des Quintus Fixlein beschreiben diese Welt nicht einfach in ihrer Unordnung, bilden sie nicht ab – sie sind das Paradox eines »Kunstgartens des Zufalls«, indem sie höchst willentlich vom eigenen Wollen lassen. Wo sich in den Romanen von selbst eine Ordnung ergibt, sind sie Offenbarung.
    In den Konzerten von Neil Young, um heute einmal nicht Romane dieser Jahre zwischenzuschalten, sondern andere Künste, in den Konzerten von Neil Young sind am meisten Übung, die größte Geduld und die günstigsten Umstände nötig, damit er im Verlauf der Improvisation so außer sich gerät, daß er sich auf der Bühne verläuft wie Jean Paul in seinen Romanen, zwischen den Lautsprecherboxen umherirrt, hinter einem Kasten verschwindet, einem Verstärkerkasten wohl, mit geschlossenen Augen wieder auftaucht, über ein Kabel stolpert und mitsamt der Gitarre wie vom Blitz getroffen stürzt, als habe sich sein Herr dem Berge gezeiget.
    Im Dokumentarfilm Grizzly Man von Werner Herzog über einen amerikanischen Bärenforscher, der von Bären aufgefressen wurde, sieht man Werner Herzog, wie er in einem amerikanischen Wohnzimmer über Kopfhörer die Kassette abhört, auf der die letzten Minuten des Bärenforschers aufgenommen sind, der Todeskampf mit den Bären, die nachts in sein Zelt eindrangen. Neben Herzog steht die Geliebte des Bärenforschers, die sich selbst noch nie getraut hat, die Aufnahme zu hören, die sie dem deutschen Dokumentarfilmer als erstem Menschen vorspielt. Plötzlich bricht Herzog ab und schreit die Geliebte des Bärenforschers in seinem bayrischen Akzent an: »Stop it!, please stop it.« Die Geliebte des Bärenforschers schaut Herzog hilflos an. »Never never listen to this! You should destroy it. Please destroy it!« Man sieht nur den Rücken von Herzog, sonst nur die Geliebte des aufgefressenen Bärenforschers, es ist ein Dialog, der nicht ausgedacht sein kann, Sekunden der größtmöglichen Nähe und Mitmenschlichkeit, die nicht möglich wären ohne ehrliches Erbarmen, und zugleich mitgefilmt werden, mitgefilmt werden sollten, verwendet ohne Skrupel.
    Gerhard Richter hat vier Jahre lang Entwurf um Entwurf angefertigt, bis die zweiundsiebzig Farbtöne feststanden, die – und nur sie – für das Fenster im Südquerhaus des Kölner Doms notwendig sind. Er berechnete mit Physikern Lichtstrahlen und ihre Spiegelung zu den verschiedenen Tageszeiten, verbrachte viele Stunden bei unterschiedlichen Glasern, setzte mehrfach Probescheiben in die Fensteröffnung ein,

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