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Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe

Titel: Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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des Geistes genau so weit steigerte, daß die Feder eben noch mithielt. Nicht den Göttern verdankte Jean Paul seinen Enthusiasmus, sondern Schnaps und Bier, und zahlte mit dem Ruin seines Körpers.
     
    Die Nüchternheit des Morgens ist nur eine negative Trunkenheit. 8
     
    Weil die großen Städte ihm zu viele Ablenkungen boten, kehrte er in das fränkische Nest zurück, das er bis an sein Lebensende verachtete,
     
    Bayreuth hat den Fehler, daß zu viele Bayreuther darin wohnen 9
     
    ertrug seine Frau
     
    Wenn sie eine Gans isset, bleibt doch immer eine übrig 10
     
    und richtete sich in dem Haus-, Ehe-, und Pantoffelleben ein, das die wenigsten Störungen bot.
     
    Man darf nicht wünschen, eine andere Frau geheirathet zu haben, wenn die Kinder der jetzigen gesund und trefflich sind. 11
     
    Man fragt sich, wann Jean Paul eigentlich die Landschaften betrachtete, die er so herrlich beschrieb, wann die großen und kleinen Dramen oder auch nur die Langeweile erlebte, denen er einen so präzisen Ausdruck gab. Seine Begegnungen mit Frauen gerieten bei weitem nicht so stürmisch wie die Affären Hölderlins, der weltfremd oder nicht als junger Mann ein Herz nach dem anderen brach. Selbst die Erziehung der eigenen Kinder, die ihm unter den wenigen Freuden des täglichen Lebens noch die größte bereitete, verwertete Jean Paul beruflich, indem er mit Levana sogleich ein monumentales Handbuch zur Pädagogik verfaßte. Ich selbst schreibe seit vier Jahren einen Roman, der nichts anderes tut, als meine Gegenwart gegen die Zeit zu imprägnieren und wenn schon nicht die, wenigstens eine untergesunkene Welt aus dem Meerboden der Vergessenheit heraufzuholen, um es mit dem Satz zu sagen, der auf der letzten Seite von Selina steht.
     
    Aber ist das Erinnern und Heraufholen untergesunkner Zeiten aus dem Meerboden der Vergessenheit nicht ein Beweis, daß es gleichsam noch ein ätherisches zweites Gehirn gibt, das bloß vom schweren drückenden des Tags befreit zu sein braucht, damit es den feinern ätherischen Anregungen des Geistes folgsam sich bequeme? 12
     
    Mag sein, nur praktisch hat das ständige Erinnern und Heraufholen zur Folge, daß ich vom Dasein, das so wertvoll sei, nichts mehr habe außer Kindererziehung und Schreibtisch, auch letzte Woche wieder nicht, der 3. Juni 2010, Fronleichnam, der erste sonnige Tag nach langem, alle Welt draußen, nur ich saß, um die Anwesenheit meiner Frau in Köln zu nutzen, seit morgens um acht über Büchern gebeugt vor dem Computer, vor dem ich in der Nacht zuvor bis zwei Uhr gesessen hatte und in den vergangenen Monaten und mehr oder weniger seit Jahren, ja seit zwanzig Jahren, wenn ich genau überlege, immer saß, wenn die Umstände es zuließen oder ich nicht auf Reisen war, aber auf Reisen schreibe ich fast noch mehr.
    Manchmal frage ich mich, wenn ich so am Schreibtisch sitze: Was denken die über mich, die mich vom Haus gegenüber immer am gleichen Platz sehen, wachen morgens auf und sehen mich, verbringen alle Tag zu Hause und sehen mich, kommen nachmittags von der Arbeit und sehen mich, treten wie die Alte vom Erdgeschoß rechts alle paar Wochen kurz auf den Balkon und sehen mich, auch jetzt wieder, da ich den Absatz schreibe beziehungsweise schrieb, den ich gerade vortrage, jetzt Fronleichnam 2010,
    14:02 Uhr, die junge Frau mit langen schwarzen Haaren hinter den weißen Gardinen, obwohl junge Frauen in den Innenstädten sonst nie mehr Gardinen vor ihren Fenstern haben, die junge Frau, die ich auf ihrem Balkon nur sehe, wenn sie Wäsche auf den Ständer hängt, den sie in diesem Augenblick, 14:03 Uhr zusammenklappte, mindestens vier-, fünfmal die Woche hängt sie Wäsche auf, das muß man sich vorstellen, obwohl sie allein lebt, nur einmal habe ich auf ihrem Balkon einen Mann gesehen, der sie später auf dem Hof mit kleiner Digitalkamera photographierte, genau unter meinem Schreibtisch zog sie sich die Bluse aus und posierte mit einem Büstenhalter so altmodisch wie ihre Gardinen, auch das muß man sich vorstellen, was schon vor meinem Schreibtisch alles passiert, vergangene Woche bestimmt schon das fünfte oder sechste Mal, daß sie Wäsche auf den Ständer hing, ich sollte mir Striche machen, aber sie vielleicht auch, sie wird vielleicht auch Striche machen, ist derimmer noch an seinem Platz?, was macht der da bloß?, was ist das für einer?, zumal sie nicht wissen kann, daß die Wohnung nur mein Büro ist und ich darin tatsächlich nichts anderes tue als am Schreibtisch

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