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Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe

Titel: Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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aufzutragen. 4
     
    Aber nicht von der Selberlebensbeschreibung , sondern von Jean Pauls letztem Roman Selina wollte ich berichten, auf den meine Poetik zuläuft, sofern ich mit der Vorlesung rechtzeitig bis zur Aufführung von Isaak Dentler im Schauspiel Frankfurt fertig werde. Obwohl Fragment geblieben und vom Kindler wie alle anderen Romane des letzten Bandes ignoriert, gelang Jean Paul kurz vorm Tod mit Selina noch das Werk, das seine lebenslangen Gedanken übers Sterben zusammenführt, mehr noch: in Einklang bringt, die Ängste und Hoffnungen, Visionen und Alpträume, Verwirrungen und Einsichten, gerade indem er wie die Bibel ihre Unvereinbarkeit bewahrt.
     
    Der große Augenblick des Todes. Es muß verwundern, daß jeder, so alltäglich auch das Leben ist, am Ende seiner Wochentäglichkeit etwas erlebt, was über den Kreis aller Geschichten und der Erde und der Erfahrung hinausgeht, das Sterben, ein neuer unfaßlicher Zustand; und brächt er Vernichtung, so blieb’ er doch beides. 5
     
    Für Jean Paul warf der unfaßliche Zustand lebenslang die wichtigste der Fragen auf, weil am Tod sich das Leben entscheidet, sich jenseitig noch alles erklärt oder die Endlichkeit alles als Zufall erweist, aber erst jetzt, kurz vorm eigenen Tod scheint Jean Paul hinzunehmen, keine oder zu viele Antworten zu finden und morgen eine andere als gestern. Der Roman ist von einer tiefen Ruhe, ja Heiterkeit selbst dort, wo er das Gräßlichste ausspricht, ob für den einen die Vorstellung der Vernichtung oder für den anderen die Vorstellung, ewig leben zu müssen, kein Einvernehmen, keine Schlüsse, nur der Frieden dessen, der sich nach lebenslangem Ringen mit der Ratlosigkeit versöhnt. Wem alles aus der Hand geschlagen wurde, der muß nichts mehr tragen. Als erkläre er, warum der Roman federleicht wirkt, obwohl er wieder, sogar ausschließlich vom Sterben handelt und weder Leid noch Vernichtung beschönigt , sagt Jean Paul:
     
    Unser Leben verdankt den dürftigen Schein seiner Länge bloß dem Umstande, daß wir in die gegenwärtige Zeit die vergangne hineinrechnen; aber es kriecht zum spitzen Augenblick ein, wenn man es neben die unermeßliche Zukunft stellt, die mit einem breiten Strom auf uns zufließt, von dem aber jeder Tropfe versiegt, der uns berührt; ein Leben zwischen den beiden zusammenstoßenden Ewigkeits-Meeren, die einander weder vergrößern, noch verkleinern können. 6
     
    Das ist Jean Pauls Anblick des bestirnten Himmels, das Erleben der eigenen Nichtigkeit als Erlösung. Nicht zum Rückzug führt es, nicht zur Passivität oder Depression, vielmehr zu einer nachgerade taoistischen Daseinszugewandtheit.
     
    Es ist, als hätten die Menschen gar nicht den Mut, sich recht lebhaft als unsterblich zu denken; sonst genössen sie einen andern Himmel auf Erden als sie haben, nämlich den echten – die Umarmung von lauter Geliebten, die ewig an ihrem Herzen bleiben und wachsen – die leichtere Ertragung der Erdenwunden, die sich wie an Göttern ohne Toten schließen – das frohe Anschauen des Alters und des Todes, als des Abendrotes und des Mondscheins des nächsten Morgenlichts. 7
     
    Nun wird es vielleicht niemanden in Jean Pauls Umkreis gegeben haben, der die eigene Empfehlung, den Himmel auf Erden zu genießen oder die Erdenwunden leichter zu ertragen, eklatanter mißachtete als er selbst. Er arbeitete wie ein Besessener an seinen Büchern, deren Gesamtausgabe, obwohl längst schrankfüllend, auch nach zweihundert Jahren noch nicht vollständig ist, und wenn er nicht an seinen Büchern arbeitete, notierte er sich seine Einfälle auf einem eigens besonders kleinen und leichten Block, der in jede Tasche paßte, um seine Allmacht stets mit sich zu tragen, und wenn er nichts notierte, ordnete er seine Zettel, die gedruckt weitere vierzigtausend Seiten ergäben, und wenn er nicht mit dem Ordnen beschäftigt war, las er, und wenn er las, ärgerte er sich, wenn ein Buch ihm zu gut gefiel, weil er es dann sofort zu Ende lesen wollte, so daß es ihn von der Arbeit an seinen eigenen Büchern abhielt. Selbst das Trinken, das Jean Paul so exzessiv betrieb, daß es zur Attraktion für den Kulturtourismus wurde und Besucher nur deshalb nach Bayreuth kamen, um eine Berühmtheit lallen und torkeln zu sehen, selbst das Trinken diente nicht dem eigenen Wohlgefallen, sondern setzte Jean Paul in exakten, wenngleich außerordentlich hohen Dosen als Mittel ein, damit sich in bestimmten Schreibphasen die Zirkulation des Blutes und

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