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Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe

Titel: Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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verhedderte sich in seinen Motivketten und Extrazeilen, begeisterte sich an seinen Metaphern, aus denen sich immer weitere ergaben, verlief sich wie Alice im Wunderland in seinen Romanen, in denen sich das Erhabenste und Alltäglichste auf ein und derselben Seite ereignete, wie schließlich im Leben auch alles gleichzeitig ist. Ganze Absätze lang gab er sich dem Inventar einer Gaststätte oder der Physiognomie einer Nase hin, nicht einmal das Niesen schien ihm zu geringfügig, um dessen »Kunst und Notwendigkeit« noch ausführlich zu würdigen:
     
    Kein Mensch hat es noch in Druk bemerkt, daß es ein Vergnügen ist, zu niesen. 18
     
    Jean Paul hat als erster Dichter auch auf das Niesen geachtet, hätte auch für das Niesen den Erzählfaden so gut wie eine Vorlesung unterbrochen.
    Wenn schon die früheren Werke mit ihren tausend Abschweifungen jeden Gattungsbegriff sprengen, ist Selina erst recht nicht als Roman im üblichen Sinne zu fassen; der Romanschreiber beginnt im ersten Kapitel mit einer Handlung, die er bald wieder vergißt, um endlich das vorletzte Kapitel mit dem Geständnis zu beginnen, daß er die Handlung »ziemlich lange« 19 aus den Augen verloren habe. Nicht einmal versucht es Jean Paul in Selina mehr mit dem Humor, den er in der Vorschule selbst postulierte, weder Witz noch Situationskomik, keine überdrehte, sondern gar keine Romanmanufaktur, statt dessen ineinander verschlungene oder sich ablösende Gedankenketten in der simplen Form des platonischen Gesprächs. Theologische Spekulationen über die Seele wechseln sich mit neurologischen Darstellungen des Bewußtseins ab, Zweifel und Glaube stehen unverbunden nebeneinander, geäußert manchmal von ein- und derselben Person wie von der sterbenden Mutter, die eine Stimme hört:
     
    Das Siechbett ist kein Siegbett, mit dem Tod ist alles aus, auch der Tod und das Nichts und Alles und das Nichts. 20
     
    Jawohl, sagt die Mutter und faltet die Hände ein letztes Mal zum Gebet.
     
    Nun muß ich nach dem Scheiden von allen meinen Geliebten, noch vom Allergeliebtesten den bittersten Abschied nehmen, von dir, mein Gott! So nimm denn meinen letzten Dank; mein Herz liebt dich bis es steht. 21
     
    Meine Dünndruckausgabe ist voller Striche und Klebezettel, noch viele Stellen könnte ich zitieren, die jene tiefe Religiosität anzeigen, die Gott nicht mehr braucht. Oft wird der frömmste Gedanke vom ketzerischsten hergeleitet, die Notwendigkeit höheren Sinns aus dem Offenkundigen der Willkür begründet:
     
    Gott ist voll Liebe, aber die Welt ist voll Schmerz; und er sieht ihn zucken von Erdgürtel zu Erdgürtel, von Jahrtausend zu Jahrtausend. Ich habe es mir zuweilen ausgemalt, es aber nicht lange ausgehalten, welche ungeheure Welthölle voll Menschenqualen in jedem Augenblicke vor dem Alliebenden aufgetan ist, wenn er auf einmal alle die Schlachtfelder der Erde mit ihren zerstückten Menschen überschaut – und alle die Kranken- und Sterbezimmer voll Gestöhn und Erblassen und Händeringen – und die Folterkammern, worin verrenkt wird – und die angezündeten Städte und alle die Selbstmörder hintereinander mit den unsäglichen Qualen, die sie in den Tod treiben – – Nein, das menschliche Auge kann nicht mit hinblicken; es muß über den Erdball hinausschauen, damit es wieder seine Wunde stille, wenn es sieht, daß nach allen scharfen Schlägen des Schicksals nicht ein auf immer zerschmetternder der letzte ist. Oder hielte eine Seele den Gedanken aus, daß das Opferbeil, nachdem dessen Schneide eine Ader nach der andern im unschuldigen Leben geöffnet, in der letzten Minute die stumpfe breite Seite vorkehre zum Todes-Schlage auf ewig? 22
     
    Während ein Rittmeister diesen Gedanken äußert, wird ein ungestalter, vieleckiger Kasten an den Versammelten vorüber getragen. Erst auf Nachfrage erfahren sie, daß es der Sarg der gichtbrüchigen Pfarrfrau ist, deren physische Qual der Roman zuvor allen als Skandal entgegenhielt, die das Leben zur Fügung verklären. Die Glieder der Verstorbenen hat
     
    der Schmerz zu einem verworrenen Knäuel und Klumpen, für welchen gar keine Form als das Grab sich fand, zusammengewunden. 23
     
    Aber wenn schon Gott so viel Ungerechtigkeit und Leid zuläßt, ist es am Menschen, auf Gerechtigkeit zu bestehen – zu tilgen den Begriff einer Vernichtung, wie es in einer Notiz aus derselben Zeit heißt. 24 Jean Pauls Bejahung ist ein Aufstand: Sein Roman hält Gott die Treue sogar gegen Gott. Als die Trauergemeinde

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