Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe
durch] – so Gott will. In der zweiten Fassung des Romans, den ich schreibe, werde ich tun, als hätte ich die Vorschule der Ästhetik früher gelesen, um hier und dort Jean Pauls eigene Erläuterungen zu übernehmen, wo meine eigenen zu nichts führen. In Frankfurt könnten noch fünfzig weitere Jahre Vorlesungen gehalten werden, ohne daß jemand eine Poetik vorlegt, die so intelligent, detailliert und amüsant l’action qui fait des eigenen Werks erklärt – worin zugleich eine Enttäuschung liegt, weil meine eigenen Urteile vorweggenommen, Geheimnisse offenbar und auch jene Postulate erkennbar werden, die Jean Pauls Romane nicht oder nicht überall einlösen. Seit dem Sommersemester 2010 kenne ich das Problem: Ich habe keine Ahnung, wie ich all das, was ich in meinen Vorlesungen postuliere, je in dem Roman einlösen könnte, den ich schreibe, und weiß jetzt schon, daß ich nach der Fertigstellung der zweiten Fassung sofort mit der dritten Fassung beginnen muß, um zwischen Werk und Poetik wenigstens einen Minimalzusammenhang herzustellen und die Enttäuschung über das Ungenügen der Exekution noch irgendwie zu begrenzen, so daß ich den Erscheinungstermin, der im Vertrag steht, also definitiv nicht einhalten werde, aber schließlich hat sich auch der Titel geändert.
Zuerst sollte der Roman, den ich schreibe, Totenbuch heißen, dann Hauptwerk , weil er statt der Toten zunächst nur Nebensächlichkeiten enthielt, dann In Frieden , wie es im Vertrag steht, und zuletzt Das Leben seines Großvaters . Bloß nicht wieder die Familiengeschichte eines Einwanderers, stöhnte nach der vorletzten Vorlesung eine Literaturkritikerin. Aber es ist nicht das Leben meines Großvaters, sondern das Leben seines Großvaters, versuchte ich meinen Titel beim Abendessen zu verteidigen, worauf sie sagte, daß es auch das Leben unseres Gartenzwergs sein könne, sie könne diese Migrationsliteratur nicht mehr lesen, die rauf und runter alle Preise abräumt. Migrationsliteratur? fragte ich entsetzt. Migrationsliteratur, bestätigte die Literaturkritikerin, welcher Mode sie den Roman eines Einwanderersohns zuordnen würde, der Das Leben seines Großvaters heißt. O Gott, dachte ich, der bei dem Roman, den ich schreibe, an alles dachte, an Jean Paul, an Hölderlin, meinetwegen an Idealismuskritik, aber nicht an Integrationsromantik. Vielleicht sollte ich die Idee aufgreifen, die mir während der ersten Vorlesung kam, und den Roman, den ich schreibe, tatsächlich Der Roman, den ich schreibe nennen, so wie das Essen, das ich esse, das Getränk, das ich trinke, oder die Frau, die ich liebe; dann wäre ich wenigstens im Titel dicht an der Poetik, die ich postuliere, und hätte überdies den Zen-Meister Baso Matsu gewürdigt.
Aber zurück zu Jean Paul, der seine Romane näher an seine Poetik führte, als es mir je gelingen wird, und seine Postulate dennoch nicht einzuhalten vermochte, nicht einmal er. Seine Witze beispielsweise, die Jean Paul mit der womöglich ausführlichsten Humortheorie deutscher Sprache begründet, fand ich von Band zu Band weniger lustig. Erst als ich während der unverhofften Osterferien seine Selina im sechsten Band der Dünndruckausgabe las, blitzte wieder die Anarchie der früheren Werke auf, deren Anlage wohl kalkuliert ist, wie ich im selben Urlaub aus der Vorschule erfuhr. Manche Situationen sind so famos erzählt, wie bereits im Siebenkäs auch in der Selberlebensbeschreibung die ersten Küsse, daß es mir am Pool, Anlage hin oder her, die Schuhe beziehungsweise Badelatschen auszog, die Romananlage, meine ich, aber die Ferienanlage auch. Das wäre auch wieder so eine billige Pointe, wie ich als einziger unter Deutschen deutsche Literatur lese, wofür ich mir noch das beifällige Nicken der Nachbarliege einhandelte, die den französischen Schauspieler ebenfalls schätzt. Die Hingabe des Barbaren an die imperiale Zivilisation, da die Zivilisierten sich wie Barbaren all inclusive buchstäblich alles erlauben, ist ein wiederkehrender Topos vieler Kulturgeschichten und als Einfall auch im Roman, den ich schreibe, schon hundert Male vorgebracht worden, weil es zu Großvaters Aufbrüchen so gut paßt wie der Einfall Jean Pauls zu Beginn seiner Selberlebensbeschreibung :
Aber ich brenn’ ihn hier absichtlich wie einen Ehrenkanonenschuß zum 101ten Male ab, bloß damit ich mich durch den Abdruck außer Stand setze, einen durch den Preßbengel schon an die ganze Welt herumgereichten Bonmot-Bonbon von neuem
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