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Ueber Deutschland

Titel: Ueber Deutschland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Germaine de Staël
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dies Werk gefährliche Sophismen, so haben sie denselben keine Gründe entgegenzustellen. Die Erfindung der Buchdruckerkunst ist wahrhaft verderblich für die, welche nur halb oder auf gut Glück lesen; denn das Wissen muß, wie die Lanze des Achilles, die Wunden heilen, die es verursacht hat.
    Unter den Verfeinerungen der Gesellschaft ist die Unwissenheit das hassenswertheste aller Gemische. Sie macht in gewisser Hinsicht dem Pöbel ähnlich, der nur Gewandtheit und Verschlagenheit achtet. Sie macht uns geneigt, nur Wohlseyn und Physische Genüsse zu suchen; ein bischen Geist anzuwenden, um recht viel Gemüth zu tödten; uns glücklich zu schätzen wegen unserer Unwissenheit, noch mehr wegen unserer Gefühllosigkeit; kurz, die Begränztheit des Verstandes mit Härte des Herzens zu verbinden, so daß wir nichts zu schaffen haben mit jenem gegen den Himmel gerichteten Blick, den Ovid als die edelste Eigenschaft der menschlichen Natur darstellt:
    Os homine sublime dedit: coelumque tueri
    J ussit, et erectos ad sidera tollere vultus.
     ————————

Zweite Abtheilung: Die Religion und der Enthusiasmus.
Erstes Capitel. Allgemeine Betrachtungen über die Religion in Deutschland.
    Alle Nationen germanischen Ursprungs sind von Natur religiös; und der mit diesem Gefühl verbundene Eifer hat in ihrem Schooße mehrere Kriege verursacht. Gleichwohl ist man, besonders in Deutschland, weit mehr zur Begeisterung als zum Fanatismus geneigt. In einem Lande, wo von allen Thätigkeiten, die des Gedankens die erste ist, muß sich der Sectengeist in verschiedenen Gestalten offenbaren. In der Regel aber bleiben die theologischen Erörterungen von den menschlichen Leidenschaften geschieden, und die mannichfaltigen Meinungen in Sachen der Religion treten nicht hervor aus jener idealischen Welt, wo ein tiefer Friede herrscht.
    Lange hat man sich, wie ich in dem folgenden Capitel zeigen werde, mit Untersuchung der Dogmen des Christenthums beschäftigt. Allein seit zwanzig Jahren, und zwar seitdem Kants Werke die Geister bearbeitet haben, hat sich in der Auffassung des Religiösen eine Freiheit und eine Größe festgestellt, die, ohne irgend eine Form des Cultus zu fordern oder zu verwerfen, die himmlischen Dinge zum herrschenden Princip des Daseyns macht.
    Viele meinen, die Religion der Deutschen sey allzu unbestimmt, und es würde besser seyn, sich unter der Fahne eines positiveren und strengeren Cultus zu verewigen. Lessing sagt in seinem Versuch über die Erziehung des menschlichen Geschlechts : „alle religiösen Offenbarungen sind dem Grade von Aufklärung angemessen gewesen, welcher um die Zeit, wo jene hervortraten, Statt fand." Das alte Testament, das Evangelium, und, in mehr als einer Hinsicht, die Reformation, standen, zu ihrer Zeit, in vollkommener Uebereinstimmung mit den Fortschritten der Geister; und vielleicht befinden wir uns am Vorabend einer Entwickelung des Christenthums, welche alle zerstreuten Strahlen in einem und demselben Heerd sammeln und uns in der Religion mehr als Moral, mehr als Glück, mehr als Philosophie, sogar mehr als Gefühl finden lassen wird; denn jedes dieser Güter kann durch seine Vereinigung mit den übrigen vervielfältigt werden.
    Wie dem auch sey: es ist vielleicht anziehend, zu wissen, aus welchem Gesichtspunkte die Religion in Deutschland betrachtet wird, und wie man das Mittel gefunden hat, jenes litterarische und philosophische System, wovon ich einen Abriß gegeben habe, mit ihr in Zusammenhang zu bringen. Gewiß ist dieser Gedankenbau, der die moralische Ordnung in ihrer Ganzheit vor unseren Augen entwickelt und dem erhabenen Gebäude die Demuth zur Grundlage und die Göttlichkeit zum Gipfel ertheilt, etwas Gebietendes.
    Die meisten deutschen Schriftsteller beziehen alle religiöse Ideen auf das Gefühl des Unendlichen. Die Frage ist: ob das Unendliche sich fassen lasse? Aber faßt man es nicht wenigstens auf eine negative Weise, wenn man in der Mathematik der Dauer und Ausdehnung keine Schranken anweisen kann? Dieses Unendliche besteht in der Abwesenheit der Gränzen; aber das Gefühl des Unendlichen, so wie die Einbildungskraft und das Herz es verarbeiten, ist positiv und schöpferisch.
    Jene Begeisterung, welche das schöne Ideall uns zuführt, jene Bewegung, voll Unruhe und Reinheit zugleich — wodurch anders wird sie geweckt, als durch das Gefühl des Unendlichen? Durch die Bewunderung fühlen wir uns gleichsam frei von den Eingriffen des menschlichen Schicksals, und es

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