Ueber Deutschland
versucht worden ist, den Verstand der Immoralität zuzuwenden: so muß man es darauf anlegen, das Genie für die Vertheidigung der Tugend zu gewinnen. Unstreitig ist es sehr gleichgültig, der Einfältigkeit angeklagt zu werden, wenn man ausdrückt, was man fühlt; aber dies Wort (Einfältigkeit) verursacht mittelmäßigen Köpfen so viel Furcht, daß man sie, wo möglich, vor seinem Angriff bewahren muß.
Aus bloßer Furcht, daß man ihre Rechtlichkeit lächerlich mache, wollen die Deutschen bisweilen, wenn gleich gegen ihre bessere Ueberzeugung, es mit der Immoralität versuchen, um sich ein glänzendes und freies Ansehen zu geben. Die neuen Philosophen haben ihren Styl und ihre Anschauungen zu einer großen Höhe erhoben, um der Eigenliebe ihrer Adepten auf eine geschickte Weise zu schmeicheln; und man muß sie wegen dieses unschuldigen Kunstgriffs loben; denn um die Stärkeren zu werden, müssen die Deutschen etwas verwerflich finden. Es ist allzu viel Treuherzigkeit, sowohl in ihrem Charakter, als in ihrem Geiste; es sind vielleicht die einzigen Menschen, denen man rathen könnte, stolz zu seyn, um besser zu werden. Läugnen läßt sich nicht, daß die Zöglinge der neuen Schule diesen Rath ein wenig zu sehr befolgt haben: allein sie sind deshalb nicht weniger die aufgeklärtesten und muthigsten Schriftsteller ihres Landes, bis auf einige Ausnahmen.
— Welche Entdeckung haben sie gemacht, wird man fragen? — Es leidet keinen Zweifel, daß das, was vor zweitausend Jahren in moralischen Dingen wahr war, es auch jetzt sey; allein seit zwei Jahrtausenden haben sich die Raisonnements der Niederträchtigkeit und Verderbtheit dergestalt vermehrt, daß ein rechtschaffener Philosoph seine Bestrebungen nach diesem traurigen Fortschreiten abmessen muß. Die gewöhnlichen Ideen können nicht gegen die systematische Immoralität kämpfen; man muß den Schacht weiter treiben, wenn die äußeren Adern kostbarer Metalle erschöpft sind. In unseren Tagen hat man die Schwäche so oft mit der Tugend vereinigt gesehen, daß man sich gewöhnt hat zu glauben, in der Immoralität sey Thatkraft. Die deutschen Philosophen — und Dank und Ruhm werde ihnen dafür zu Theil! sind im achtzehnten Jahrhundert die ersten gewesen, welche den Verstand zum Glauben, das Genie zur Moral, und den Character zur Pflicht hingezogen haben.
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Ein und zwanzigstes Capitel. Von der Unwissenheit und von der Leichtfertigkeit des Geistes in ihren Verhältnissen zur Moral.
Die Unwissenheit, welche es vor einigen Jahrhunderten gab, achtete die Einsichten und wünschte dergleichen zu erwerben; die Unwissenheit unseres Jahrhunderts ist abschätzig, und sucht die Arbeiten und Nachforschungen aufgeklärter Männer lächerlich zu machen. Der philosophische Geist hat beinahe in allen Klassen eine gewisse Leichtigkeit des Raisonnements verbreitet, welche dazu dient, alles Große und Ernste in der menschlichen Natur zu verschreien; und wir sind in der Civilisation zu der Epoche gelangt, wo alles Schöne des Gemüths sich in Staub auflöset.
Als die Barbaren des Norden sich der fruchtbarsten Gegenden Europa's bemächtigten, brachten sie wilde und männliche Tugenden mit; und indem sie sich zu vervollkommnen suchten, forderten sie von dem Mittag Sonne, Künste und Wissenschaften. Aber die policirten Barbaren schützen nur Gewandtheit in den Angelegenheiten dieser Welt, und unterrichten sich gerade nur so weit es nöthig ist, um mit einigen Phrasen die Andacht eines ganzen Lebens zu äffen.
Die, welche die Vervollkommnungsfähigkeit des menschlichen Geistes läugnen, behaupten, in allen Dingen lösen sich Fortschritte und Verfall einander ab, und wie das Glücksrad, eben so drehe sich auch das Gedankenrad. Welch ein trauriges Schauspiel würden Generationen seyn, die sich, wie Sysiphus in der Unterwelt, auf Erden mit ewig unnützen Arbeiten beschäftigten! Und was würde denn die Bestimmung des menschlichen Geschlechtes seyn, wenn sie der grausamsten Folter gliche, welche die Phantasie der Dichter hat erdenken können! Allein, dem ist nicht also, und in der Geschichte des Menschen läßt sich ein Plan wahrnehmen, der immer derselbe bleibt, nie ausgegeben wird, und beständig vorschreitet.
Der Kampf zwischen den Angelegenheiten dieser Welt und den erhabenen Gefühlen hat zu allen Zeiten, wie bei Individuen, so bei Nationen fortgedauert. Der Aberglaube zieht oft aufgeklärte Menschen zur Ungläubigkeit hin, und im Gegenteil wecken bisweilen
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