Ueber Deutschland
Wohlwollen für Menschen und Dinge ein. Man klebt alsdann nicht an sich selbst, wie an einem privilegirten Wesen. Weiß man viel über die menschliche Bestimmung, so wird man nicht von jedem Umstande wie von etwas Beispiellosem gereizt; und da die Gerechtigkeit nichts anderes ist, als die Gewohnheit, die Verhältnisse der Wesen unter einander aus einem allgemeinen Gesichtspunkte zu betrachten: so trägt der Umfang des Geistes nicht wenig dazu bei, daß wir uns von persönlichen Berechnungen losmachen. Man hat über seinem Daseyn, wie über dem Daseyn Anderer geschwebt, wenn man sich der Betrachtung des Universums hingegeben hat.
Einer von den großen Nachtheilen der Unwissenheit in dem gegenwärtigen Zeitalter ist auch, daß sie unfähig macht, über die meisten Gegenstände, welche Nachdenken erfordern, eine eigenthümliche Meinung zu haben. Wenn die eine oder die andere Ansicht durch das Uebergewicht der Umstände einmal zu Ehren gebracht ist, so glauben die meisten, daß die Worte: Alle denken oder handeln so , für Jeden die Vernunft und das Gewissen vertreten müssen.
In, der geschäftlosen Klasse der Gesellschaft ist es beinahe unmöglich, ohne einen gebildeten Geist, Gemüth zu haben. In früheren Zeiten reichte die Natur aus, den Menschen zu belehren und seine Einbildungskraft zu entwickeln; allein seitdem der Gedanke, dieser ausgelöschte Schatten des Gefühls, alles in Abstraktionen verwandelt hat, muß man viel wissen, um gut zu fühlen. Nicht zwischen dem Aufschwunge eines sich selbst hingegebenen Gemüths und den philosophischen Studien hat man zu wählen, wohl aber zwischen dem überlästigen Murren einer gemeinen und leichtfertigen Gesellschaft und der Sprache, welche die schönen Geister von Jahrhundert zu Jahrhundert bis auf unsere Zeiten geredet haben.
Wie könnte man ohne die Kenntniß der Sprachen und ohne eine zur Gewohnheit gewordene Lectüre Umgang pflegen mit Menschen, welche nicht mehr sind, und in denen wir so deutlich unsere Freunde, unsere Mitbürger, unsere Bundesverwandte erkennen? Man muß sehr mittelmäßigen Herzens seyn, wenn man sich so edlen Freuden versagen will. Nur Die, welche ihr Leben mit guten Werken ausfüllen, können ohne Studien fertig werden, und die Unwissenheit in geschäftlosen Menschen spricht eben so sehr die Trockenheit ihres Gemüths, wie die Leichtfertigkeit ihres Geistes aus.
Und dann bleibt noch etwas sehr Schönes und Moralisches übrig, was Unwissenheit und Leichtfertigkeit nie genießen können; dies ist der Verein aller denkenden Menschen von dem einen Ende Europa's bis zum andern. Bisweilen stehen sie in keiner persönlichen Beziehung mit einander; oft sind sie durch große Zwischenräume von einander getrennt: aber begegnen sie sich, so reicht ein einziges Wort hin, sich zu erkennen. Nicht die oder jene Religion, nicht die eine oder die andere Meinung, nicht die gleiche Art der Studien vereinigt sie; wohl aber der Anbau der Wahrheit. Bald dringen sie, gleich Bergleuten, in die Tiefe der Erde, um im Schooße der ewigen Nacht die Mysterien der verhüllten Welt zu ergründen; bald erheben sie sich zum Gipfel des Chimborasso, um auf dem erhabensten Punkte des Erdballs neue Erscheinungen zu entdecken; bald studieren sie die Sprache des Orients, um darin die Urgeschichte des Menschen zu finden; bald wandern sie nach Jerusalem, um aus heiligen Ruinen einen Funken zu schlagen, der Religion und Poesie belebt. Kurz, das wahre Volk Gottes sind diese Männer, welche nicht an dem menschlichen Geschlechte verzweifeln und ihm die Herrschaft des Gedankens bewahren wollen.
Die Deutschen verdienen in dieser Hinsicht eine besondere Erkenntlichkeit. Unwissenheit und Fahrläßigkeit in Hinsicht dessen, was mit der Literatur und den schönen Künsten in Verbindung steht, ist bei ihnen eine Schande, und ihr Beispiel beweiset, daß auch in unseren Tagen, der Anbau des Geistes in den unabhängigen Klassen Gefühle und Grundsätze bewahrt.
In Frankreich ist während des letzten Theils des achtzehnten Jahrhunderts die Richtung der Literatur und der Philosophie nichts weniger als gut gewesen; aber wenn man sich so ausdrücken darf, so ist die Richtung der Unwissenheit noch weit furchtbarer. Denn kein Buch schadet dem, der alle Bücher lieset. Wenn die Müßigen der Welt im Gegentheil sich einige Augenblicke beschäftigen: so ist das Werk, das ihnen in die Hände fällt, eine Begebenheit für ihren Kopf, ungefähr wie die Ankunft eines Fremdlings in einer Wüste; und enthält
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