Ueber die Liebe und den Hass
Dubois beobachtete, wie sie sich den Mantel zuknöpfte und dann vorsichtig den Maxi-Cosi hochhob. Mit einer Hand bereits auf der Türklinke drehte sie sich um. »Morgen früh bringe ich ihn wieder.«
Es war der vierte Tag, an dem Calixe David in Meneer Dubois’ Zimmer schmuggelte. Es lief ausgezeichnet. Sie hatte sogar den Eindruck, dass David und Meneer Dubois Gefallen an der jeweiligen Gesellschaft gefunden hatten.
Erleichtert atmete Calixe auf. Das Wochenende stand vor der Tür. David lachte, während sie ihn gut im Maxi-Cosi festschnallte.
»Arbeitest du nicht an diesem Wochenende?« Meneer Dubois’ Stimme klang heiser.
»Nein, zum Glück nicht. Aber du weißt doch, dass Sonntag ihr Geburtstag ist. Ich komme um halb elf hier vorbei und hole dich ab. Bitte warte unten am Eingang auf mich.«
Meneer Dubois sagte nichts.
»Wo fahren wir hin?«
»Weißt du nicht mehr, wohin wir wollen? Hast du es wirklich vergessen, oder tust du nur so?«
Calixe warf einen kurzen Seitenblick auf ihn und konzentrierte sich dann wieder auf die Straße.
Sie hatte vor dem Altenheim eine Viertelstunde auf ihn gewartet, und als er nicht auftauchte, war sie zum Wagen gegangen, den sie ein Stück entfernt geparkt hatte, und hatte alle Türen verriegelt. David hatte ihr schläfrig hinterhergeschaut, als sie zum Altenheim zurückging. Diesmal nahm sie den Hintereingang, direkt zu den Zimmern der Bewohner. Sie hoffte, dass sie niemandem vom Personal begegnen würde. Für den Fall, dass sie doch erwischt würde, hatte sie eine Ausrede parat. Während der vielen Jahre, seit sie Meneer Dubois nun alljährlich mitnahm, hatte sie von ihrer Notlüge noch nie Gebrauch machen müssen.
Sie traf ihn auf dem Balkon an, er saß auf einem Stuhl, trug einen bis oben zugeknöpften Mantel und eine Wollmütze schief auf dem Kopf. Er sah sie an, während sie die Tür sanft hinter sich zuzog, aber nicht zu ihm hinging.
»Weshalb kommst du nicht von allein nach unten? Ich warte schon eine ganze Weile auf dich. Du weißt doch, dass es riskant für mich ist, wenn ich dich abhole.«
Er erhob sich träge und folgte ihr nach unten.
»Mach dir deswegen mal keine Gedanken«, sagte sie und wechselte vorsichtig die Fahrspur. »Du wirst es nicht vergessen. Glaubst du etwa, ich wüsste nicht, wie heilsam das Vergessen sein kann? Als würden nur Fragmente von Geschichten existieren. Nichts, woran du selbst beteiligt warst.«
Sie hielt an einer roten Ampel. Meneer Dubois versuchte die Tür zu öffnen. Calixe hatte vorsorglich die Kinderverriegelung eingeschaltet.
»Ich will umkehren. Hast du mich verstanden, Chagrin. Ich werde nicht aus dem Wagen aussteigen, ich will umkehren, habe ich gesagt!«
Calixe fuhr unbeeindruckt weiter.
Eine Weile schwieg Meneer Dubois. Calixe beobachtete ihn aus den Augenwinkeln und umklammerte das Steuer. Sie befürchtete, er könne wie im vergangenen Jahr ins Lenkrad greifen. Damals hätte sie um Haaresbreite ein parkendes Auto gestreift.
Sein imposantes Erscheinungsbild von damals war verblichen, als hätte er nie Arme wie aus Stahl, einen Nacken wie ein Stier und Hände wie Schaufeln gehabt.
Der Mann auf dem Foto. Es könnte auch ein dummer Scherz gewesen sein, dachte Calixe.
Ein Versehen. Ihre Mutter hatte dieses Foto stets im Portemonnaie mit sich getragen. Ängstlich hatte sie es vor Knicken geschützt und es zwischen der EC-Karte und ihrem Ausweis aufbewahrt. Und immer wieder hatte sie es herausgeholt, zu allen passenden und unpassenden Gelegenheiten. »Das ist mein Vater, stark und schön.«
»Ah, er ist dein Vater? Damit erklärt sich auch deine Hautfarbe«, sagten dann einige.
Als Calixe alt genug gewesen war, um Fragen über ihren Vater zu stellen, hatte ihre Mutter das Foto nicht mehr herausgeholt und fortan über Väter und Großväter geschwiegen.
Abwesend schaute er aus dem Fenster hinaus, erkannte weder Straßen noch Gebäude.
Calixe hielt in einer ruhigen Straße an, kurz vor einem Blumengeschäft.
Sie stieg aus, verriegelte den Wagen und betrat den Laden. Kurz darauf kehrte sie mit einem Strauß weißer Margeriten zurück, den sie auf dem Autodach ablegte, vorsichtig, damit die Blüten nicht abbrachen.
Sie betrachtete den Strauß, während sie die Wagentür aufschloss.
Danach klappte sie den Fahrerstuhl vor und holte den Maxi-Cosi mit David aus dem Auto. Er girrte seine Mutter mit fröhlichen Lauten an, doch sie reagierte nicht auf ihn. Aus dem Kofferraum zerrte sie das Gestell des Kinderwagens heraus.
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