Ueber die Liebe und den Hass
aber immer viel zu kurz. Jeden Morgen aufstehen, zu einer festen Uhrzeit, mit einem festen Ziel vor Augen. Erst dann fühlt man sich zu etwas nütze, fühlt man, dass man lebt. Das Schamgefühl, das Gefühl, überflüssig zu sein, es verschwindet dann wie durch ein Wunder.
Ich übertreibe wirklich nicht, denn die Alternative ist nicht besonders angenehm.
Es bringt mir keine Ehre, wenn ich im Bett liegen bleibe, bis die Sonne im Zenit steht und der Geruch der tajine , die auf dem Herd schmort, mir bestätigt, dass ich der weltgrößte Versager bin. Wie sehr ich dieses Gefühl eines weiteren verlorenen Tages verabscheue! Bis ich dann richtig wach bin und meinen Kaffee und meine erste Zigarette intus habe, sind alle Jobs bereits vergeben, haben die Zeitarbeitsunternehmen wieder geschlossen, und meine Eltern sind der Verzweiflung nahe.
Manchmal hat es sie nicht gekümmert, meine Eltern, manchmal riefen sie, manchmal fluchten sie, ein einziges Mal hat mein Vater mein Bett an einer Seite hochgehoben und mich herausgekippt. Für mich war es dann offenbar leichter, diesem jämmerlichen Zustand ein Ende zu bereiten, indem ich mir mit einem Kumpel ein kleines Apartment nahm, als mir eine ordentliche Arbeit zu suchen. Ich musste unbedingt klare Strukturen in mein Leben bringen, das momentan völlig aus dem Ruder lief. Was ich unbedingt brauchte, das war ein Job. Und möglichst einen für länger als nur eine Woche. Und obwohl ich einen Kurs belegt hatte, in dem mir beigebracht wurde, wie man einen überzeugenden Lebenslauf schreibt, gibt es da ein riesiges Problem mit meinem Lebenslauf.
Aus irgendeinem Grund werde ich immer mit einem Rachid verwechselt, der ich nicht bin und den ich nicht kenne.
Letztens noch in diesem Restaurant, ich war fest davon überzeugt, dass mein Niederländisch und mein ordentlicher Lebenslauf Eindruck machen würden.
Der Geschäftsführer, ein Mann, der es nicht gewohnt war, wenn man ihm widersprach, sah mich an, indem er abfällig zunächst meine Schuhe musterte und dann langsam den Blick weiter nach oben zu meinem Gesicht gleiten ließ. Dort angekommen, gab er mir wortlos, aber dennoch sehr deutlich zu verstehen, dass ich für ihn der letzte Dreck war. Während er mich so taxierte, fragte er mich mit kehliger Stimme, ob ich Marokkaner sei.
»Ich komme aus Algerien.«
Der Mann zog die Augenbrauen zusammen. »Du bist doch nicht etwa ein Staatsfeind?«
»Nein.«
»Ist das nicht dort, wo es ein Nationalsport ist, sich die Kehle durchzuschneiden?«
»Das ist Politik«, stammelte ich. »Ziemlich kompliziert, das alles jetzt zu erklären. Ich bin dagegen. Ich bin gegen Gewalt. Die begehen dort große Dummheiten. Jeder sollte versuchen, in Frieden zu leben.«
Am liebsten hätte ich mir selbst in den Arsch getreten für mein unterwürfiges Anbiedern. Das Schlimmste war jedoch, dass ich einen nahezu unwiderstehlichen Drang verspürte, noch eins draufzusetzen, indem ich ihm erzählte, wir Algerier seien sehr liebenswürdige, herzliche Menschen, wir würden schöne Teppiche machen und die Musik lieben. Kennen Sie Aicha? Cheb Khaled? Aber ich hielt mich gerade noch zurück. Es war besser, ich erzählte nichts über Algerien, der Mann hatte soeben behauptet, die Leute würden sich dort abmurksen.
Ich versuchte, davon abzulenken, indem ich über meine Motivation sprach und über meine Stärken. Wie flexibel ich sei und wie unendlich anpassungsfähig.
Doch der Mann war mit den Gedanken bei Dörfern, die in Blut badeten, und bei schreienden Frauen.
Ich hätte ihm gern ein differenziertes Bild über die politische Lage in Algerien vermittelt oder meine Meinung über die Abschaffung der Monarchie in Kathmandu dargelegt oder auch über die Frage, ob wir demnächst die Sprachgrenze wirklich nicht mehr ohne Ausweis überqueren könnten. Aber irgendetwas sagte mir, dass der Mann nicht wirklich daran interessiert war. Ich wünschte ihm noch einen schönen Tag und nahm meinen ordentlichen Lebenslauf wieder mit.
Wochen später war der Job als Küchenhilfe noch immer zu vergeben. Wir befanden uns in einer Zeit, in der Küchenpersonal mit dem richtigen Namen und der richtigen Hautfarbe nur schwer zu bekommen war.
Einmal hätte es fast geklappt. Ich hatte ein Gespräch bei der De Vlaeminck AG. Ein Einmannbetrieb, der mit Steinhandel eine Marktlücke aufgetan hatte. Ich hätte mir an die Stirn schlagen können, dass ich darauf nicht selbst gekommen war. Ich gratulierte dem Geschäftsinhaber zu dem schönen und
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