Ueber die Liebe und den Hass
Mit einer gekonnten Bewegung klappte sie es auseinander und stellte den Maxi-Cosi hinein. Erst dann öffnete sie die Tür auf Meneer Dubois’ Seite, der störrisch vor sich hin starrte und den Spazierstock zwischen die Beine geklemmt hatte.
»Wohin bringst du mich, Chagrin?«
»Steig einfach aus, dann kannst du dir die Beine ein wenig vertreten. Du wirst dich gleich daran erinnern, wohin wir gehen. Ich bringe dich jedes Jahr hierher. Beeil dich jetzt. Dir wird es schon noch einfallen. Alles, was du vergessen hast.«
Langsam nahm er den Stock von der linken in die rechte Hand und drehte den Oberkörper zur geöffneten Autotür, wo Calixe auf ihn wartete und ihm eine Hand reichte. Er ergriff sie und streckte zunächst das rechte Bein und dann den Spazierstock aus dem Auto hinaus. Calixe fasste ihn unter und half ihm aus dem Wagen.
Als er das Gleichgewicht gefunden hatte, ließ sie ihn los, schloss das Auto ab und schob den Kinderwagen in Richtung Straße. Auf der gegenüberliegenden Seite war die Straße von einer halbhohen roten Backsteinmauer gesäumt, mit einem schmiedeeisernen Tor in der Mitte, das geöffnet war. Graue Grabsteine und Kruzifixe ragten hinter der Mauer empor. Zu beiden Seiten des Tores hielten hohe Bäume Wacht.
Meneer Dubois folgte Calixe, die aus Rücksicht auf das Tempo des alten Mannes sehr langsam ging.
Hinter dem Tor, im Inneren des Mauernrings, hing die Stille wie eine goldene Glut in den Baumzweigen.
Der Weg, der zwischen den Gräbern hindurchführte, war mit einem braunen Blätterteppich bedeckt. Irgendwo raschelte eine Amsel, auf der Suche nach Futter.
Beim ersten Grab, das er sah, hielt Meneer Dubois an. Mit dem Spazierstock schob er die kupferfarbenen Blätter zur Seite.
Calixe ging weiter. Die Räder des Kinderwagens machten auf dem Kiesweg ein knirschendes Geräusch, das Calixe beruhigte. Als sie bemerkte, dass er ihr nicht folgte, wartete sie.
Langsamen Schrittes ging Meneer Dubois wieder weiter.
»Komm schon, trödel nicht so herum«, ermahnte sie ihn, als er sie gemächlich eingeholt hatte.
Calixe bog mit dem Kinderwagen rechts in einen kleinen Pfad ein. Hier standen die Bäume dicht nebeneinander, vereinzelt gab es dennoch Stellen, an denen die Zweige sich nicht berührten. Durch die Luken im Blätterdach drang das Licht in gebrochenen Strahlen hindurch und warf ihr tanzende Schattenbalken vor die Füße. Der Weg führte nach links und endete in einem Gräberfeld. Calixe blieb stehen.
Aus dem Körbchen unten im Kinderwagen holte sie eine Bürste, einen Lappen und einen Plastikbeutel hervor. Meneer Dubois war weiter bis zum ersten Grab gelaufen.
Calixe folgte ihm und begann, den Marmorstein von dem herabgefallenen Laub zu befreien. Mit dem Lappen in der Hand kniete sie sich hin, um den Marmor des Grabsteins ordentlich polieren zu können.
Meneer Dubois trat noch etwas näher heran.
Calixe stemmte sich wieder hoch und fuhr ein letztes Mal mit dem Tuch über den Grabstein.
Marie-Hélène Dubois 1950–1985
»Les feuilles mortes se ramassent à la pelle, Chagrin. Les souvenirs et les regrets aussi, c’est pas moi qui le dit. Die toten Blätter schaufelt man zusammen, Chagrin. Auch die Erinnerungen und das Leid, das ist nicht von mir«, murmelte Meneer Dubois kaum hörbar.
Calixe stopfte das vertrocknete Laub, das sie zu einem Haufen zusammengefegt hatte, in den Plastikbeutel. Ohne aufzuschauen, sagte sie: »Du wolltest ihr kein Vater sein. Ihre Zeit war noch nicht abgelaufen.«
Sie ging zurück zum Kinderwagen.
Danach nahm sie die Blumen, befreite sie aus der Plastikhülle und stellte sie in den eingemauerten Blumenständer rechts neben dem Stein.
Meneer Dubois ging zu David, der im Kinderwagen allmählich unruhig wurde.
»Befrei ihn aus seinem Gefängnis, er will laufen.«
»Er kann noch nicht laufen.«
»Lass ihn raus, dann nehme ich ihn an der Hand.«
Calixe verstaute den Beutel mit den toten Blättern und dem Unkraut unten im Kinderwagen. Danach befreite sie David von den Gurten und stellte ihn vorsichtig auf den Boden.
»Hier, halt ihn gut am Händchen fest, denn er läuft noch sehr wackelig.«
Meneer Dubois tat, was ihm gesagt wurde, und hielt David fest an der Hand.
»Wie alt war Mama, als du sie mitgenommen hast?«
Meneer Dubois sah sie mit einem Blick an, als hoffte er, ihrem Gesicht die Antwort ablesen zu können.
»Ich weiß nicht, vielleicht mit zehn. Aber sie lebte damals bei den Novizinnen in Stanley. Danach ging sie in Brüssel zur Schule.
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