Ueber die Liebe und den Hass
dann, irgendwann einmal, weigern sie sich, auch nur noch einen Millimeter nachzugeben. Die Grenze darf nicht mehr verlegt werden. Das Tückische schlummert in der Tatsache, dass diese Grenzen subjektiv bestimmt sind, dass sie von Person zu Person variieren. Werden diese Grenzen überschritten, schlägt man zurück. Ohne Mitleid.
Das ist der Moment, in dem der andere zur Hölle wird.
Meiner Meinung nach ist die ganze Sache mit der Geduld nur dazu da, um Menschen gegeneinander aufzubringen.
Die Jungen, die mich angegriffen haben, waren überzeugt davon, richtig zu handeln, weil ich auf schamlose Weise ihre Duldsamkeit angetastet hatte. Dass ich arrogant die Grenze des Erträglichen überschritten hatte, ihre Grenze.
Ich zeigte keine Dankbarkeit dafür, dass man mich tolerierte, nein, ich hatte mich in Katja verliebt, wollte sie heiraten, mit ihr zwei Kinder bekommen, ein Mädchen und einen Jungen. Ich wollte mit ihr ein Häuschen kaufen, es renovieren und mir vielleicht ein Haustier zulegen.
Katja hatte mir zuvor bereits erzählt, sie mache sich Sorgen um Stef, weil sie ihn wiederholt dabei erwischt habe, wie er im Internet auf extrem rechten und Neonazi-Sites surfe. Inzwischen machte er noch nicht einmal einen Hehl daraus. Und jedes Mal, wenn sie ihn darauf ansprach, antwortete er gemäß seiner jeweiligen Gemütslage. Manchmal sagte er, sie sei einfach noch zu naiv für die Wahrheit, ein anderes Mal zog er schulterzuckend ab und behauptete, alles sei nur ein Spiel.
Sie hatte mich sogar darum gebeten, einmal mit ihm zu sprechen. Aber ich hatte keine Lust dazu, kleine Jungs umzuerziehen. Ich fand es in Ordnung, wenn er sein Glück in Websites fand, die die Menschheit in überlegene oder unterlegene Rassen aufteilte, abhängig von der jeweiligen Hautfarbe. Mir war nicht danach, ihn auf andere Gedanken zu bringen. Wir grüßten einander nicht, und das war aber auch das Einzige, was mich anfangs gestört hatte.
Zu dem Zeitpunkt, als Katja und ich schlendernd in die Straße einbogen, hatten die Jungs sich gegenseitig so aufgestachelt, dass sie sich in einer anderen Welt befanden. Ein »Blitzkrieg« musste geführt werden, und Stef war ein »Obersturmbannführer«, der seine Truppen mit großer Entschlossenheit kommandierte.
In dem Moment, als die Jungs die Straße schräg überquerten und gezielt strammen Schrittes auf uns zukamen, erkannte Katja, dass hier irgendwas nicht in Ordnung war. Plötzlich hörte sie auf zu lachen. Ich sah, wie Stef die Eisenkette, die er immer am Hosenbund baumeln hatte, löste. Er wickelte sie sich einmal um die Hand und hielt das Ende mit der anderen Hand stramm fest.
Katja drückte sich dicht an mich und suchte meine Hand. Ich stieß sie von mir und konnte den linken Arm gerade noch rechtzeitig heben, um den Schlag mit der Kette abzuwehren. Die Kette wickelte sich um meinen Arm, bis ich sie ergreifen konnte und Stef mit der freien Faust einen Schlag ins Gesicht versetzte, der ihn zurück zu seiner Gruppe katapultierte.
Seine Kameraden konnten nicht verhindern, dass er zu Boden ging. Ich sah, dass seine Nase blutete. Und dann, als wären sie eine einzige Person, sprangen die drei auf mich. Einen bekam ich sofort zu packen, und er konnte nichts mehr machen. Die anderen schlugen von allen Seiten auf mich ein. Ich hörte Katja rufen, sie sollten aufhören. Sie versuchte mich von der Gruppe zu befreien, aber sie wurde mit Fußtritten weggestoßen. Sie stolperte und stürzte neben ihren Bruder, der noch immer zu benebelt war, um wieder auf die Beine zu kommen.
Jemand rief: »Schmutzige Muslimhure!«
Und dann bekam ich plötzlich mit der Kette mehrere Schläge ins Gesicht. Ich hatte das Gefühl, mein Gesicht würde explodieren, aus dem linken Auge troff Blut, und ich spürte, wie ich das Bewusstsein verlor und auf die Knie sank.
Ich wollte losbrüllen, aber ich brachte keinen Ton mehr hervor. Oder waren es meine Lippen, die ich nicht mehr auseinanderbekam? Ich hatte keine Gewalt mehr über meinen Körper, konnte mich nicht einmal mehr auf den Beinen halten. Es war, als gehörte der Körper, an dem sie ihre ganze Wut und ihren Hass abreagiert hatten, nicht mehr zu mir.
Katja weinte. Ich konnte sie sehr deutlich hören. Ansonsten war alles still, keine schlagenden Jungs und keine Ketten, die über den Boden schleiften.
Ich lag seitlich auf dem Boden, in Embryonalstellung. Instinktiv versuchte ich, mich möglichst klein zu machen, um meinen Körper irgendwie zu schützen. Ich versuchte
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