Ueber die Liebe und den Hass
bergab ging, in einem Altenheim lebte. Und wie bei jedem Besuch erkannte sie auch diesmal Katja nicht und fragte mich wiederholt, ob ich ihr denn ihr Enkelkind nicht vorstellen wolle. Nach dem Besuch mussten wir immer noch darüber lachen, denn ihre Großmutter hatte behauptet, eine der Bewohnerinnen habe ein Baby bekommen. Sie hätte das Baby weinen hören. Wieder einmal waren wir auf dem Weg zu unserem Traumhaus. Diesmal hatten wir den Vorwand, die Fenster ausmessen zu wollen, damit wir Gardinen nähen lassen konnten. Wir würden die Fenster nicht renovieren, weil sie noch in einem recht guten Zustand waren.
Unterwegs kabbelten wir uns wegen der Spitzengardinen, die die Eigentümerin in einem der Schlafzimmer hängen hatte. Katja wollte sie allen Ernstes behalten, um sie später im Kinderzimmer aufhängen zu können.
»Hast du dir die Teile mal näher angeschaut? Die willst du doch nicht wirklich haben. Wer weiß, was die alles mit angesehen haben, diese vergilbten Lumpen. Und so was willst du einfach in unserem Haus aufhängen, und dann noch im Kinderzimmer! Womöglich stecken böse Geister drin, willst du das etwa unserem Kind antun?«
»Sei doch nicht so blöd! Es sind wunderbare Gardinen aus einer anderen Zeit.«
»Na wunderbar, dass du das wenigstens erkannt hast!«
»Und sie sind nur deshalb vergilbt, weil sie so viele Erinnerungen in sich aufgenommen haben. Könnten sie sprechen, würden sie uns erzählen, wie die alte Eigentümerin sich als junge Frau gefühlt haben muss, als sie die Gardinen aufgehängt hat. Ob sie auch so vom ersten Zusammenleben mit ihrem Liebsten geträumt hat? Ich bin mir sicher, sie hat die Gardinen für ihr erstes Kind selbst genäht.«
»Ich habe nirgendwo Anzeichen von einem Liebsten und auch nicht von einem Kind gesehen.«
»Er wird bereits seit langem verstorben sein.«
»Ach, ja?«
»Im Zweiten Weltkrieg gestorben. Sie konnte ihre Trauer nie überwinden und ist ihr ganzes Leben lang allein geblieben. Aber sie hätte gern eine Tochter gehabt.«
»Schon ein bisschen dumm von ihr.«
»Was denn?«
»Sie hätte die ersten gemeinsamen Wochen mit ihrem Ehemann doch fruchtbarer gestalten können, als den lieben langen Tag diese dämlichen Gardinen zu nähen. Ich könnte mir vorstellen, dass man so kurz vor dem Zweiten Weltkrieg instinktiv an die Fortpflanzung denkt und weniger ans Stricken.«
»Spitze strickt man nicht, du Schlaumeier!«
»Ist mir doch egal, ich hab sowieso nur Ahnung vom Nageln, und wenn es nach mir ginge, sollte dies auch die einzige Aktivität in unserem Haus sein.«
»Ach, so einer bist du!«
Sie versuchte mir noch im Gehen einen Tritt zu versetzen, dem ich aber geschickt auswich. Lachend bogen wir in die Gemblouxstraat ein, und dort standen sie und erwarteten uns.
Wahnsinn kann manchmal die seltsamsten Formen annehmen. Und ich wusste intuitiv, dass er sich diesmal in der Form von vier gelangweilten Jugendlichen präsentierte, die in der Ideologie des weißen Übermenschen einen Halt gefunden hatten.
Dass wir uns alle unentwegt am Rand des Wahnsinns bewegen, darüber hatte ich vor dem Geschehnis noch nie nachgedacht. Dass auch ich meiner Portion irrationaler, tierischer Gewalt nicht entkommen könnte, auch darüber hatte ich mir nie Gedanken gemacht. Ich wähnte mich sicher in einer Umgebung, in der sogar der giftigste Hass noch lyrisch formuliert wurde. Alles nur eine Frage der Argumente und Gegenargumente, dachte ich, weil aus meiner Welt der Wahnsinn bereits seit langem vertrieben war. Ich hatte angenommen, hier seien bereits genügend Opfer gebracht worden, um dieses Ungeheuer für immer zu vertreiben. Es gab diesen jungen Soldaten, der seine Frau kinderlos zurückließ. Das waren Opfer, die Menschenleben betrafen.
Ich hatte mich einer Illusion hingegeben, bis ich dann erkannte, dass schon eine winzige Handlung ausreichte, um eine totale, alles niedermachende Raserei auszulösen. Mehr brauchte man nicht, um eine Situation eskalieren zu lassen. Nur ein einziger Tropfen.
Ein spielendes Kind, das zu viel Lärm macht. Eine Frau mit Kopftuch, die vor einem Schaufenster steht und sich die aktuelle Mode anschaut. Ein Mann, dem man mit ungelenken Zeichen deutlich machen will, dass er einen nicht versteht.
Und das alles nur deshalb, weil der Geduld nun einmal Grenzen gesetzt sind und weil es sich in den Köpfen derer, die diese Geduld aufbringen müssen, so anfühlt, als würde diese Grenze immer stärker ausgedehnt, immer weiter verschoben. Und
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