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Ueber die Liebe und den Hass

Ueber die Liebe und den Hass

Titel: Ueber die Liebe und den Hass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachida Lamrabet
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geschlossen, seine Augen brauchten Ruhe.
    Ganz ohne sein Zutun, nur durch die Kraft seiner Gedanken, nahm die Messingplatte wieder ihre normale Form an. Das Schloss sprang auf.
    Langsam öffnete er die Augen, der Nebel lichtete sich, und er konnte gerade noch sehen, wie die Pforte in der grauen Zimmerdecke verschwand.
    Als »Der Rote« an seiner Tür angekommen war, atmete er wieder normal, und auch sein Herzschlag hatte sich beruhigt.
    Er setzte sich auf den Bettrand. Seine Finger zitterten noch, und er hatte einen bitteren Geschmack im trockenen Mund.
    Während des Spaziergangs zündete er sich seine vorletzte Zigarette an. Er hoffte, dass sein Bruder rechtzeitig an ihn gedacht hatte.
    Der Himmel war blau, die Sonne strahlte, doch er spürte die Wärme nicht. Der Sonnenschein wurde von einem unsichtbaren Schild zurückgehalten. Die Wärme war für die Welt dort draußen bestimmt.
    In einer Ecke des Innenhofs sah er Johan de Salafi, wieder einmal stark mit seiner Missionarsarbeit beschäftigt. Bereits seit Wochen versuchte er Karims Widerstand zu brechen, und es schien, als hätte er allmählich Erfolg damit.
    Er ging zu ihm.
    Karim sah schlecht aus. Er kauerte auf dem Boden, den Rücken an die Mauer gelehnt, und hielt den Blick starr auf die Schuhspitzen gerichtet.
    »Lass den Jungen doch in Ruhe, Johan, such dir jemand in deiner Größe, dem du auf die Nerven gehen kannst.«
    Johan sah ihn kurz an und begrüßte ihn, wie es sich gehörte.
    » Salam aleikum , Bruder.«
    Karim schaute kurz auf, richtete dann aber sofort und ohne weitere Reaktion seinen Blick wieder auf die Schuhspitzen. Er schob die Hände noch tiefer in die Jackentaschen. Als Karim zu ihnen gestoßen war, war es ihm gelungen, seinen absurden Humor mit hereinzuschmuggeln, ein seltenes Gut in dieser Welt hinter Mauern. Heute war er offenbar von Trübsinn übermannt worden. Lachen hatte keinen Zweck, es würde sowieso nichts ändern. Er schien die Waffen gestreckt zu haben.
    »Was ist denn heute mit dir los? Du wirkst ja so, als hättest du die Nachricht bekommen, dir drohe der elektrische Stuhl.«
    Johan zog verächtlich eine Augenbraue hoch. »Lass ihn, Bruder, so darfst du nicht mit ihm reden.«
    »Ach, geh mir bloß fort mit deinem ewigen Brudergerede, Johan, und verdirb den Burschen nicht mit deinen Predigten, lass ihn in Ruhe, lass uns alle in Ruhe, du hast doch selbst keine Ahnung, worüber du sprichst.«
    »Jahja. Jahja ist mein Name, wie oft muss ich dir das denn noch sagen?«
    Karim schob sich träge an der Mauer hoch und machte ein paar Schritte, bis er zwischen den streitenden Männern stand. »Hast du eine Zigarette für mich?«
    Er hatte eine Riesenlust, einfach zu lügen, aber er brachte es nicht übers Herz. Er reichte ihm das Päckchen mit der letzten Zigarette, und als Dank dafür ließ Karim eine seiner Beschwerden los.
    »Sie haben mich wieder ganz unten auf die Warteliste für die eine Arbeitsstelle gesetzt, diese Dreckskerle.«
    Karim bekam nichts mehr von draußen. Seine Familie hatte ihn fallenlassen. Sie hatten lange sehr viel Geduld mit ihm gehabt, doch eines Tages war es dann endgültig vorbei. Nicht ein Quäntchen Geduld konnten sie mehr aufbringen, keiner von ihnen. Sie besuchten ihn nicht einmal mehr. Sogar seine Mutter hatte ihn sich selbst und der Gnade Gottes überlassen. Die Arbeitsstelle war seine einzige Hoffnung auf etwas Taschengeld.
    Er verstand, was Karim durchmachte, weil er schon manches Mal hatte zusehen müssen, wie andere auf der Liste an ihm vorüberzogen. Sogar Kerle, die erst viel später reingekommen waren, bekamen fast sofort eine Arbeit, während er noch immer wartete.
    Zum Glück hatte er noch seinen älteren Bruder, der regelmäßig an ihn dachte. Ohne seine Zigaretten, den Kaffee und das Fernsehen könnte er es nicht aushalten. Die Warterei würde ihn verrückt machen. Dieses passive Warten nahm kein Ende, und das Schlimmste war, dass er überhaupt nichts tun konnte, damit die Zeit schneller verging. Er hatte keinerlei Einfluss auf den Verlauf der ewig gleichen Tage.
    Er hatte sich einem Plan zu fügen, der ihm von oben diktiert wurde, ausgetüftelt von einem Mastermind, jemandem, der es so einrichtete, dass die Hoffnung auf ein anderes, besseres Leben fachmännisch zunichte gemacht wurde, seine Frustration hingegen proportional zunahm.
    Noch immer hatte er diesen unwiderstehlichen Drang, zur Tür zu gehen, sie zu öffnen und, ohne von einem Schloss, einer Kette oder einem Gitter gehindert zu

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