Ueber die Liebe und den Hass
werden, einfach weiterzugehen. Der Wunsch, mehr als nur die viereinhalb Schritte tun zu können, machte ihn regelrecht krank. Nun schien es, als würde der zweimal täglich stattfindende Spaziergang auf Zeiten verlegt werden, an denen er lieber auf dem Bettrand sitzen geblieben wäre, um die wenigen guten und die vielen schlechten Taten in seinem Leben zu überdenken und sich zu fragen, ob es nicht einfach besser wäre, zu sterben.
Doch er hatte sich an den vorgeschriebenen Plan zu halten und musste warten.
Warten auf das Besuchswochenende, warten, dass Geld eingegangen war, warten auf die Zustimmung, etwas in der Kantine kaufen zu dürfen.
Warten auf den Rechtsanwalt, auf die Gelegenheit, arbeiten zu dürfen. Warten, telefonieren zu dürfen, duschen zu dürfen, warten, bis jemand die Tür öffnet.
Aufs Essen warten, aufs Einschlafen warten, auf den neuen Tag warten. Und jeder neue Tag dauerte länger als der vorherige. Jeder Tag dauerte und dauerte, streckte sich, bis manch ein Insasse aggressiv und gewalttätig wurde.
Die Hölle war das hier, eine Hölle des Wartens.
Das fanden sogar die Gefängniswärter, die die allergrößte Mühe hatten, auch nur einen einzigen Tag im Innern dieser Festung auszuhalten. Es hatte aus ihnen andere Menschen gemacht. Sie konnten sich einfach nicht an diesen Stillstand gewöhnen. Wenn sie durch die große Pforte schritten, dann fühlten sie förmlich, dass sich die Unbeweglichkeit der Zeit wie ein bleierner Mantel über sie legte. Es schien, als würden ihre Handlungen verlangsamt, ihre Atmung flacher. Und inmitten der Schwere wartete das Böse in blaugrauer Uniform. Meistens trat das Böse eher verhalten zu Tage, manchmal aber raste es. Das Böse hatte Hunderte Gesichter und hörte auf Hunderte von Namen, aber es war stets das eine unausrottbare Böse, gegen das die Gefängniswärter sich in diesem zeitlosen Vakuum täglich aufs Neue zur Wehr setzen mussten.
Karim hatte seine Zigarette halb aufgeraucht und war dann erneut in Gedanken versunken, während Johan mit den Erörterungen eines von Abu Huraira überlieferten hadith begann. In solchen Momenten war Johan ausgesprochen nützlich. Seine Predigten füllten die Leere, ohne dass Aufmerksamkeit oder gar eine Antwort von jemandem erwartet wurde. Er sorgte für ein beruhigendes Hintergrundgeräusch, das den anderen ermöglichte, ihren eigenen trübseligen Gedanken nachzuhängen.
Johan ging vollkommen in seinem Auftritt auf, eine Showeinlage, pathetisch vorgetragen, mit viel Weisheit und Ernst.
Mit aller Macht versuchte er, durch seine Mimik, seine beherrschten Bewegungen und seine minimale und verhaltene Gestik Heiterkeit auszustrahlen.
Ein Außenstehender wäre sehr bald beeindruckt gewesen von dem fein gestutzten Bärtchen, den gepflegten Händen und dem fundierten Wissen, doch ihm konnte man nicht so schnell imponieren.
Johans Übereifrigkeit ging ihm auf die Nerven. Johan wollte um alles in der Welt beweisen, dass er ein guter Muslim war.
Seiner Meinung nach las Johan zu viele Bücher, die nicht für ihn bestimmt waren. Kein Wunder, dass er solch seltsame Gedanken hegte.
Er weigerte sich standhaft, ihn Jahja zu nennen. Und in diesen seltenen Momenten verlor Johan dann tatsächlich seine gute Laune.
Einmal mit seinem echten Namen angesprochen zu werden, ertrug er noch, beim zweiten Mal bat Johan ihn freundlich, aber bestimmt, dies zu unterlassen. Beim dritten Mal sagte er gar nichts mehr.
Es war ihm dann vollkommen egal, worüber gerade debattiert wurde, selbst wenn sie über die Wichtigkeit des dhikr oder die Frage diskutierten, ob Zidane nun noch praktizierender Muslim sei und ob das einen Einfluss auf seine erfolgreiche Fußballerkarriere habe. Nannte man ihn zum dritten Mal bei seinem christlichen Namen, ließ Johan die Gruppe stehen und ging.
Er konnte einfach nicht verstehen, wie Johan mit der Verkündung des neuen Glaubensbekenntnisses seine komplette Identität auslöschen konnte, als hätte er vor seiner Bekehrung nicht existiert, als wäre er ohne Vergangenheit.
Als hätte seine Mutter kein Kind zur Welt gebracht, dem sie den Namen Johan gegeben hatte.
Sie besuchte ihn weiterhin jede Woche und sorgte dafür, dass er etwas Geld auf dem Konto hatte. Und er schämte sich ihrer und wollte möglichst wenig mit ihr zu tun haben, weil sie dickköpfig an ihrer Nichtgläubigkeit festhielt.
Im Islam hieß es, das Paradies der Mütter liege nicht zu ihren Füßen, es sei nicht der Lohn für ihre Ausdauer und
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