Ueber die Liebe und den Hass
Ruhe!«
Der Junge antwortete nicht, das tat er nie. Aber er stand noch immer mit ausgestreckter Hand vor ihm, wie jedes Mal, wenn er bei ihm in der Zelle auftauchte.
Als der Junge zum ersten Mal in der Zelle war, da hatte er eine unglaubliche Angst bekommen, er hatte geschrien und gegen die Tür gehämmert. Die Gefängniswärter kamen in seine Zelle gestürmt, den Jungen, der dort in der Ecke stand, hatten sie nicht beachtet. Sie hatten ihn gebändigt und ihn für ein paar Tage in eine Isolierzelle abgeführt, wo man ihn mit Injektionen ruhiggestellt hatte.
Er ließ den Jungen nicht aus den Augen und atmete weiter schwer ein.
Heute Nacht wollte er, auch wenn er sich ängstigte, die ausgestreckte Hand annehmen. Langsam erhob er sich von dem Bett. Die Hand des Jungen fühlte sich warm an. Er drückte sie, in der Annahme, keinen Widerstand zu spüren. Doch der Junge erwiderte den Druck. Seine Lider wurden wieder schwer, und es kostete ihn Mühe, die Augen offen zu lassen. Er zwinkerte mehrmals.
Als er seine Augen endlich wieder öffnen konnte, dauerte es einen Moment, bis er sich auf die im Sonnenlicht badende Ebene eingestellt hatte, wo er gemeinsam mit dem Jungen hingeraten war. Er schaute sich um und sah ein paar verstreute Häuser. Vor langer Zeit war er einmal an diesem Ort gewesen, oder hatte er das nur geträumt?
Das Licht, das hier schien, hatte er zuvor schon einmal gesehen, dessen war er sich vollkommen sicher. Grell und enthüllend war es, nur die Häuser und Mauern warfen einen Schatten auf den roten Sand, der sich unter seinen Füßen warm und sanft anfühlte. Der samtige Boden gab ihm das Gefühl, hier frei zu sein, einen Schritt setzen zu können, langsam oder sogar auch schnell laufen zu können, ohne dabei Angst haben zu müssen, sich vielleicht an einem scharfen Stein zu verletzen. Sogar die Wärme der Sonne hatte er schon einmal gespürt, vor langer Zeit. Es war die Sorte Wärme, die Erwachsene träge machte und von der sie sich ausruhen mussten, wohingegen sie Kinder mit so viel Energie versorgte, dass sie im eigenen Spiel aufgingen.
In der Ferne hörte er das Gekläff von Hunden. Ansonsten war alles ruhig und vertraut. Er fühlte sich hier auf seltsame Weise heimisch. Eine warme Brise kam auf, die sein blaues Hemd wölbte. Er schloss die Augen, sein Gesicht wurde sanft gestreichelt, er lächelte.
Der Junge hielt noch immer seine Hand und führte ihn noch immer schweigsam durch seine merkwürdige Welt.
Plötzlich ließ der Junge seine Hand los und lief zu einer Gruppe von Kindern, die im Schatten eines alten Feigenbaumes ein Spielzeugauto bastelten.
Sie nahmen dazu Stahldraht und einen leeren roten 3-Liter-Ölkanister. Einer der Jungen schnitt ein Stück Gummi von einem kaputten Autoreifen fachmännisch in vier gleich große Kreise. Ein anderer durchtrennte den Kanister in der Mitte. Die eine Hälfte diente als Fahrerhaus für einen Pick-up, die andere als Ladefläche. Ein dritter Junge suchte schließlich einen Rohrstock, den er an der einen Seite des Lastwagens befestigte. Auf der anderen Seite wurde ein Lenkrad aus Stahldraht eingebaut.
Der Junge, der die ganze Zeit über voller Bewunderung die geschickte Bastelei der Kinder verfolgt hatte, durfte als Erster eine Probefahrt machen.
Er sah, wie der Junge den Pritschenwagen in Bewegung setzte, erst mühsam, doch als die Räder sich an den Untergrund gewöhnt hatten, rollte der Laster ganz von selbst. Er spürte, wie sein Herz einen Satz machte. Er hatte Lust, den Laster selbst zu lenken, ihn geschickt um die Steine und Kuhlen herumzumanövrieren. Früher war er ein richtiges Ass darin gewesen, aus dem Müll, den sie überall im Dorf gefunden hatten, Autos zu basteln. Keiner konnte so schnelle Autos bauen wie er, und seine waren auch am stabilsten. Sie hielten fast die ganzen Ferien.
Ein kleines Mädchen mit einem roten Kleidchen fragte den Jungen, ob er die Ladefläche mit roter Erde beladen und sie bis zum ersten Haus dort drüben transportieren könne, wo sie gerade mit einer Gruppe Kinder spielte.
Er wusste nicht, weshalb er beim Anblick des Mädchens an ein Lied von Oum Kalthoum denken musste, das seine Mutter früher oft im Haus gesummt hatte: »Amal Hayati«.
Hoffnung meines Lebens.
Die Hoffnung war bereits seit langer Zeit aus seinem Leben gewichen, genauso schnell wie das Mädchen mit dem roten Kleidchen, das hinter dem Jungen her zu ihrem Haus lief und dann nicht mehr zu sehen war.
Der Junge brachte die Ladung roter Erde
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