Ueber die Liebe und den Hass
erwachsenen Mann in Fetzen zu zerreißen. Im Zoo wird dieses Monster zu einem großen Kuscheltier, rührend und putzig. »Schau doch mal, wie niedlich das Bärchen ist«, sagen die Mütter, während das Tier gelangweilt umherschlendert, auf seiner künstlichen Insel in einer tiefen Wassergrube. Der Bär trottet schmollend von einem Kunsteisblock zum nächsten, umzingelt von einem schmalen Wassergraben, begrenzt von einer hohen Mauer, die bis zum Publikum reicht, das hinter Sicherheitsglas die Bewegungen des Tieres verfolgt. Unbesorgt, furchtlos und voller Vertrauen.
Wir strotzten vor Überlegenheitsgefühl.
Es konnte nichts passieren. Und aus demselben Grund konnte der Chef sich, zwar ein wenig verloren, aber dennoch frei, in dem großen Saal bewegen und den Anblick genießen. Sich ungeniert an dem Gefunkel, Gemunkel und Gelächter verlustieren.
Einige der Frauen sahen aus wie glitzernde Vulkane. Aufgedonnert und aufgetakelt bis zum Abwinken. Andere wiederum waren atemberaubend. Sie schenkten ihm ein sinnliches Lächeln. War es möglich, dass einige von ihnen in diesem Moment vielleicht doch eine Spur von dem wilden Tier bemerkten, und war das der Grund, weshalb sie schnell den Blick senkten? Ich weiß es nicht, ich war damals noch zu jung. Jedenfalls nahm man keinen Anstoß an dem Chef inmitten der Frauen.
Bis Mahjouba uns einen Streich spielte, der das ganze Viertel bis in seine Grundfesten erschütterte. Es hätte uns bereits auf der Hochzeitsfeier auffallen müssen, dass mit ihr etwas nicht stimmte. Dass sie es sich traute, sich ohne takschita zu präsentieren. Erst tauchte sie viel zu spät auf, und dann, wohlgemerkt, in einem schwarzen Hosenanzug. Sehr elegant, und dem Stoff und dem Schnitt nach zu urteilen, hatte sie ihn auch bestimmt nicht beim Pakistani im Bahnhofsviertel erstanden.
Damals hätten wir erkennen müssen, dass Mahjouba uns zu verstehen geben wollte, sie gehöre nicht zu uns. Sie hatte ihre alten Kleider abgelegt. Und sie tanzte an diesem Abend nicht. Einige Tage nach der Hochzeitsfeier platzte die Bombe im Viertel.
Mahjouba verschwand mit einem reichen jüdischen Mann. Nicht einmal ein gewöhnlicher Belgier, nein, sie hatte sich etwas Besseres ausgesucht. Mit Bedacht. Sie wechselte sofort ins feindliche Lager über.
Während der ersten Tage hatte das eine seltsame Stille im Viertel ausgelöst. Als würde es keine Worte für das geben, was Mahjouba getan hatte.
Und dann fing jemand, zunächst zögerlich, schließlich aber öffentlich und mit ganzer Empörung an, von Schande und Abscheu zu sprechen. Wochenlang schwirrte Mahjoubas Verrat in den Straßen herum, beim Metzger, beim Arzt im Wartezimmer, bei den Männern am Ausgang der Moschee, auf den Bänken der Spielplätze.
Mahjoubas Familie ließ sich nicht mehr auf der Straße blicken. Es war, als hätten sie einen Todesfall. Nur traute sich niemand, ihnen zu kondolieren.
Als kurz nach Mahjoubas Streich ein Verkaufsschild im Fenster des Hauses ihrer Eltern hing, fand jeder das ganz selbstverständlich.
Jahrelang hing es dort. Das Orange des Schildes verblasste mit der Zeit, und die vier Ecken wölbten sich vor lauter Mutlosigkeit nach innen. Die beiden Worte, die dort in schwarzen Lettern standen, ähnelten immer mehr einem Hilfeschrei, einem unterdrückten Ruf.
ZU VERKAUFEN
In Gottes Namen! Kauft es doch! Irgendjemand! Damit diese Leute von hier verschwinden!
Tag und Nacht flehte es im Stillen, doch ohne Resultat.
Unser Viertel zählte damals nicht unbedingt zu den Gegenden, wo man gern ein Haus erwerben wollte. Das Viertel würde erst viele Jahre später attraktiv werden für Jungverdiener mit zwei Kindern, nach der Gentrifizierung und den Renovierungsversprechungen.
Und Mahjoubas Familie lebte noch immer dort. Wäre es möglich gewesen, dann hätten sie sich mit Haus und Hof davongemacht. Irgendwohin, wo keiner sie kannte und wo niemand etwas von Mahjouba und ihrem jüdischen Mann wusste.
Erst als einige Jahre darauf noch weitere junge Frauen aus dem Viertel mit Weißen verschwanden, nahm die Familie das Schild aus dem Fenster.
Seitdem hatte sich die Einstellung im Viertel geändert. Von nun an bedeutete jeder Mann, ungeachtet seiner ethnischen Zugehörigkeit oder Religion, eine Gefahr. Man erkannte das wilde Tier im anderen, und man rechnete damit, dass es seine Klauen ausfuhr. Die Ränge schlossen sich.
Hannelore hatte die ganze Zeit über schweigsam meinen Erzählungen gelauscht. Sie schien beeindruckt zu sein.
»Bei den
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