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Ueber die Liebe und den Hass

Ueber die Liebe und den Hass

Titel: Ueber die Liebe und den Hass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachida Lamrabet
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gehen, wurde stärker.
    Johan bemerkte meine Zweifel und meine Angst. Wortlos hob er den Rucksack vom Boden auf und zog mich hinter dem Busch hervor, zu seinem Wagen, den er ein Stückchen entfernt geparkt hatte. Er ließ mich vorne einsteigen, Hannelore saß bereits hinten.
    Meinen Rucksack warf er in den Kofferraum und stieg schnell ein.
    Hannelore kicherte nervös, als wir abfuhren.

Ein Kind Gottes
    Mein Sohn heißt Furkan, er war Muslim, und ich war seine Mutter. Als er geboren wurde, war ich endlich jemand. Er würde mir helfen, der Welt zu trotzen. Er würde von mir das Böse fernhalten.
    Wie ein Schutzengel.
    Furkan.
    Die Trennlinie zwischen Gut und Böse war von nun an eindeutig.
    Doch ich fiel, und ich hörte nicht mehr auf zu fallen, und mein kleines Baby war viel zu klein, um mich aufzufangen. Und niemand war da.
    Beide waren wir vaterlos, mein Sohn und ich. Doch mein Vater hatte mich einmal gekannt, hatte mich innig geliebt.
    Und er ließ mich, hoch oben auf seinen starken Schultern, wie einen Engel schweben.
    »Schau, Melek, schau, ein Luftballon! Fang ihn, versuch es!«
    Ich lachte, und ich war mir sicher, dass ich den Luftballon, wenn es wirklich sein müsste, auch berühren könnte, und sei es nur mit den Fingerspitzen. Egal, wie labil mein Gleichgewicht oben auf seinen Schultern auch sein mochte, ich fühlte mich dort sicher und frei von Angst.
    Die türkische Botschaft erkannte keine außerehelichen Kinder an. »Nimm dein Kind wieder mit, ohne Vater kann er kein Türke werden.«
    Ich wollte schreien und zetern und wildfremde Leute um Hilfe bitten, doch ich schwieg und ging mit Furkan im Arm weiter. Wieso bist du zu mir gekommen, Furkan? In meinem Leben gibt es keinen Platz für dich, es gibt noch nicht einmal Platz für mich selbst. Siehst du das denn nicht? Ich kann dich nicht weiter tragen. Wohin denn? Wohin möchtest du denn, dass ich dich tragen soll?
    Ich könnte ihn irgendwo zurücklassen und schnell wegrennen. Ich könnte nach Hause zurückgehen und Papa fragen, ob ich meinen Kopf in seinen Schoß legen darf und er mir dann übers Haar streicht. Ich würde eine zweite Chance bekommen.
    Und Furkan würde in der Kälte vielleicht ganz schnell erfrieren, oder es würde ihn jemand finden, und auch er bekäme eine zweite Chance.
    Doch obwohl ich in dieser großen Stadt überall düstere Winkel und Ecken sah, die mich geradezu aufforderten, Furkan dort zurückzulassen, drückte ich ihn fest an mich und lief weiter.
    Ohne richtiges Ziel.
    Dann nahmen sie ihn mir weg. »Nicht für lange«, beteuerten sie. Bis ich wieder Ordnung in mein Leben gebracht hätte.
    Es sei besser für Furkan. Und für mich.
    Ich gab ihn widerstandslos weg, weil ich glaubte, ich könnte ihn genauso leicht aus dem Kopf bekommen, wie ich ihn auch aus meinem Körper vertrieben hatte.
    Aber ich konnte ihn nicht vergessen. Ich konnte nicht so tun, als sei er nur ein flüchtiger Gedanke gewesen. Sosehr ich mich auch bemühte, es gelang mir einfach nicht, ihn nur auf eine Erinnerung zu reduzieren, die gemischte Gefühle bei mir auslöste. Ich konnte nicht so tun, als sei er lediglich ein weiteres Hindernis auf meinem langen trübseligen Weg zu mir selbst. Zudem stimmte es auch nicht, dass er von meinem Körper getrennt war. Damals wurde mir bewusst, dass er noch immer mein Körper war. Dass er wehtat. Dass seine Abwesenheit wie ein Messer in meinen Körper stach und ihn verwundete. Es gab Momente, da wurde ich von einem Schmerz übermannt, der mich nach dem Tod verlangen ließ.
    Seine Abwesenheit füllte mein ganzes Leben aus, und plötzlich hatte nichts mehr einen Sinn. Plötzlich gab es wirklich keinerlei Grund, morgens noch aufzustehen. Und es dauerte so ewig, alles verlangsamte sich, die Tage wurden bleischwer.
    So einfach es gewesen war, ihn wegzugeben, so schwierig war es, ihn wiederzubekommen oder ihn zumindest vor Menschen zu behüten, die aus ihm ein Kind machen wollten, das er nicht war.
    Ich konnte einfach nicht glauben, dass in dem Plädoyer des Rechtsanwalts der Pflegefamilie alle rassistischen Auffassungen, die ich bei jedem Kontakt mit der Familie zu hören bekam, wieder auftauchten. Diesmal allerdings anders formuliert, kultivierter. Der Rechtsanwalt verwendete schwierigere Wörter und bildete längere Sätze, doch was er sagte, war genau das, was ich immer von der Pflegefamilie zu hören bekam, wenn ich Furkan zurückforderte.
    Und dennoch hatte ich Vertrauen. Jetzt konnten die Jugendrichterin und alle weiteren

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