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Ueber die Liebe und den Hass

Ueber die Liebe und den Hass

Titel: Ueber die Liebe und den Hass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachida Lamrabet
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hatte.
    Ich würde meinem Sohn niemals etwas wegnehmen wollen, ich wollte ihm etwas geben, damit er mehr sein würde, als ich es jemals gewesen war.
    Besser.
    Er heißt Furkan. Kein Name für einen Christen. Diesen Namen habe ich ihm gegeben. Ich.
    »Ich will meinen Sohn zurückhaben.«
    Die Rechtsanwältin sah mich mitleidig an. »Melek, so gelingt uns das aber nicht.«
    Trotz meiner bangen Vorahnung war das Urteil der Jugendrichterin für mich ein Schlag ins Gesicht. Furkan durfte getauft werden.
    Es war, als würde damit die letzte grausame Phase eingeleitet, um uns für immer voneinander zu trennen. Schon mehrere Monate waren wir körperlich getrennt, und noch immer bekam ich nachts regelmäßig Krampfanfälle, so sehr vermisste ich sein warmes kleines Babykörperchen. Ich wurde fast wahnsinnig vor Sehnsucht, seinen süßlichen Geruch einatmen zu können und seinen Körper an mich zu drücken. Anfangs schlief ich nach langen durchweinten Stunden wimmernd und erschöpft wieder ein. Doch nach einiger Zeit fehlte mir die Kraft zum Weinen, meine Tränen schienen versiegt zu sein, und die Hoffnungslosigkeit trieb mich aus dem Bett, aus dem Haus, hinaus auf die Straße.
    Und nun versetzte man uns den Gnadenstoß. Unsere Seelen wurden voneinander getrennt. Für ewig und noch weit darüber hinaus. Muslime und Nicht-Muslime, treffen sie im Jenseits aufeinander?
    Die vier Nächte, die zwischen der Urteilssprechung und der Taufe lagen, irrte ich herum. Während einer dieser nächtlichen ziellosen Touren sah ich einen Mann an einem verlassenen Bushaltehäuschen. Der letzte Bus war bereits vor Stunden abgefahren, der erste würde erst in ein paar Stunden kommen.
    Ich habe mich noch nie vor der Nacht gefürchtet, vor den Geräuschen, den Schattierungen in den Grauzonen, der fahlen Straßenbeleuchtung oder gar der absoluten, alles verschluckenden Finsternis. Das Einzige, was mir Angst machte, waren Schatten und Silhouetten von Menschen. Ich ging davon aus, dass jeder vernünftige Mensch zu dieser unglückseligen Uhrzeit schon längst schlief.
    Umherirrende Menschen waren solche wie ich oder zwielichtige Gestalten. Gerade als mich mein Instinkt in einem weiten Bogen um das Bushaltehäuschen herumleiten wollte, sah ich etwas, das ich mir nicht sogleich erklären konnte. Irgendetwas kam mir an dem Mann bekannt vor.
    Ich versuchte den Blick zu schärfen.
    Es war die Haltung, in der er dort saß. Die Beine leicht gespreizt. Die Ellenbogen auf die Knie gestützt. Den Kopf hatte er in den Händen ruhen. Er starrte vor sich hin.
    Irgendetwas war mit diesem Mann, und bevor ich mich versah, war ich nur noch zwei Meter von ihm entfernt. Jetzt konnte ich auch seine Hände sehen. Kurz dachte ich, er schliefe. Das lag auch an der Linie seines gewölbten Rückens, den breiten Schultern. Er wirkte erschöpft, nicht wirklich alt, aber müde.
    Auf einen Schlag verließ mich jegliche Energie, sie versickerte in der Erde, als er den Kopf hob und mich ansah. Seine Augen, irgendetwas war mit seinen Augen. Ich machte einen Schritt zur Seite. Das Leuchten, das bei ihm immer erschien, wenn er mich sah, war nun verschwunden.
    »Melek?«
    Er erhob sich und kam auf mich zu. Ohne ein Wort zu sagen, drückte er mich an sich. Ich hörte sein unterdrücktes Schluchzen, sein Körper bebte leicht.
    Ich hielt ihn so fest, dass meine Finger zu schmerzen anfingen, aber meine Augen wurden nicht feucht.
    Ich wusste, dass es so etwas in der wirklichen Welt eigentlich nicht geben konnte. Ich wusste, dass mir mein Verstand einen Streich spielte. Und dennoch hielt ich ihn weiter fest, als würde ich am Abgrund balancieren, und er wäre mein einziger Halt. Ich würde niemals als Erste den Griff lockern. Niemals.
    Ich würde ihn nie wieder loslassen, denn ich wusste, was es bedeutete, Schmerzen zu haben, Angst zu haben, ohne seine Eltern in der Nähe zu wissen. Ohne ihre tröstenden Worte und starken Arme.
    Gefühle von Schmerz oder Angst waren bitterer, stärker, und sie wussten mich immer und überall zu erreichen, weil ich ihnen vollkommen allein ausgesetzt war. Es stellte sich niemand zwischen sie und mich.
    »Wieso kommst du nicht wieder nach Hause zurück, Melek? Warum kann es nicht so wie früher sein, Melek? Meine Melek. Tun wir einfach so, als wärest du nie weggewesen, oder nur für ganz kurz. Und jetzt kehrst du wieder zurück.«
    »Und Furkan?«
    Er ließ mich los. Leicht. Aber er ließ mich los.
    Und wieder fühlte ich, wie eine warme Energiequelle

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