Ueber die Liebe und den Hass
Hannelore.
»Die Frau tickt nicht ganz richtig. Ist sie wirklich deine Freundin?«, flüsterte er und warf Hannelore, die etwas entfernt von uns stehen geblieben war, einen wütenden Blick über die Schulter zu.
»Meinst du echt, sie tickt nicht ganz richtig? Merkwürdig. Und das in einem Irrenhaus?« Ich riss mich mit einem Ruck von ihm los und ging an Hannelore vorbei in mein Zimmer.
Eine Woche darauf war der Plan beschlossen und sollte ausgeführt werden.
Kurz nachdem die abendliche Besuchszeit beendet war, schlich sich Hannelore in mein Zimmer.
»Bist du bereit?« Der verschwörerische Ton in ihrer Stimme raubte der ganzen Sache den Ernst.
Ich kicherte nervös. »Auf geht’s, meine Liebe!« Ich sprach eher zu mir selbst als zu Hannelore, die in der Hand einen abgewetzten Rucksack hielt, der nur halb gefüllt war. »Mehr nimmst du nicht mit?«
»Das ist alles, was ich brauche. Komm, wir müssen uns beeilen, die Schwestern hocken gerade bei ihrem Kaffee.«
Ich nahm meine Tasche. Ich hatte noch die Pantoffeln an. Ich dachte, wir hätten eine größere Chance, ungehört und ungesehen hier wegzukommen, wenn dies auf Pantoffeln und nicht auf hohen Absätzen geschah. Ich warf noch schnell einen Blick aufs Bett und in den Schrank, um sicher zu sein, dass ich nichts vergessen hatte. Auf der Fensterbank standen fünf halbverwelkte Blumensträuße und starrten mich taubstumm an. Damals wurde mir bewusst, dass ich nie wieder Blumen würde ertragen können.
Hannelore steckte den Kopf durch die Tür und spähte in den Flur. Sie machte ein Zeichen, dass ich ihr folgen solle. Ich versuchte mit ihr mitzuhalten.
Offenbar hatte sie den Weg hinaus sehr präzise studiert. Sie wusste genau, welche Türen sie öffnen musste, damit wir schnell und ungesehen ins Treppenhaus auf der Rückseite des Gebäudes gelangten. Wir schlichen wie die Internatsschülerinnen die Stufen hinunter. Erleichtert atmete ich auf, als ich die Glastür zum Garten erblickte, doch Hannelore ignorierte sie und tapste weiter nach unten. Ich folgte ihr.
Mit einem Schlüssel öffnete Hannelore die Kellertür.
»Wo hast du den denn her?«, fragte ich voller Bewunderung. Mit einem vielsagenden Lächeln drückte sie die Tür auf und machte Licht.
»Es stimmt also nicht, dass sie die Leichen im Keller aufbewahren«, flüsterte ich, als wir durch den Keller gingen.
»Das hier ist ein Irrenhaus und keine Trauerhalle«, antwortete Hannelore.
Wir gingen zur Vorderseite des Gebäudes. Der Kellerraum badete im Tageslicht, das durch die vielen schmalen Fenster hereinfiel.
Hannelore hatte ein paar Tage zuvor eine Kellerluke ausgesucht, und Johan sollte die Kette während der Nacht durchtrennen. Sie lief nun schnurstracks zu dem Fenster.
»Hilf mir beim Aufdrücken.«
Ich kroch zu Hannelore in die Nische unter dem Gitterrost. Überall hingen Spinnweben, und ich erschauderte bei dem Gedanken an die kleinen, langbeinigen Tierchen, die jetzt ihre Chance wahrnahmen und mir ins Haar oder in die Kleidung krochen. Hannelore war viel mutiger. Sie zog sich den Ärmel ihrer Jacke über die Hand und wischte eine ganze Spinnenwelt weg. Wir drückten ein paarmal kräftig gegen den Gitterrost. Er löste sich mit einem Ruck. Wir brauchten uns nur noch ein wenig zu strecken und den Gitterrost ganz hinauszuschieben. Zögernd steckte ich den Kopf aus dem Kellerloch und entdeckte zu meiner Erleichterung, dass wir uns im Sichtschutz eines großen Buschs befanden. Es war ein seltsames Gefühl, plötzlich in der freien Natur zu sein, nach all den Wochen der Verwahrung mit Therapien und Medikamenten.
Mir war danach, wieder in das Loch zurückzukriechen und die Treppen hinaufzulaufen. Zurück in meinen Turm, wo ich, wenn ich es wollte, die Welt aus einer sicheren Entfernung betrachten konnte. Wo ich in meiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt war, in meinem Denken. Weil das besser so war.
In der Straße hing die typische Verlassenheit eines Sonntags. Sonntage fand ich schon immer unangenehm. Ein Tag, an dem sich nichts bewegte. Das Leben würde erst am nächsten Tag beginnen, und ich war schon immer ein eher unruhiger Typ.
Ich folgte Hannelores Vorbild und warf meinen Rucksack hinaus. Geschmeidig wie eine Katze zog sich Hannelore als Erste hoch. Plötzlich fühlte ich Johans Hände um meinen Arm. Er half mir aus dem Loch heraus.
Ich stand auf der Straße, unsicher und verstört. Außerhalb der Anstalt.
Der Drang, wieder zurück in die Öffnung zu kriechen und in mein Zimmer zu
Weitere Kostenlose Bücher