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Ueber die Liebe und den Hass

Ueber die Liebe und den Hass

Titel: Ueber die Liebe und den Hass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachida Lamrabet
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zu ihrer großen Überraschung nun einfach an ihr vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Sie schaute ihr hinterher. War das wirklich die Nachbarin, die sie sonst nicht aus den Klauen ließ, um sich lang und breit über die sinnlosesten Dinge auszulassen? Es war ihr schon öfter passiert, dass sie nach einem langen Arbeitstag lieber noch ein paar Runden um den Block drehte, um der Nachbarin, die den Hund ausführte, nicht in die Arme zu laufen. Sie musste grinsen. Jetzt hatte sie einen anderen Trick, wie sie ihren Attacken entkommen konnte.
    An der Bushaltestelle blieb sie stehen. Eigentlich konnte sie jetzt auch die hinterlegte Sendung bei der Post abholen. Sie hörte bereits das Geräusch des sich nähernden Busses, bevor er um die Ecke gebogen war. Sie postierte sich außerhalb des Bushaltehäuschens, so wie sie es immer tat, wenn sie mit dem Bus fuhr. Da kam der Bus auch schon, doch er schien seine Geschwindigkeit nicht zu drosseln. Zu ihrem Entsetzen fuhr er einfach weiter.
    »He!«, rief sie empört.
    Der Bus machte noch eine elegante Kurve nach rechts und verschwand dann auf Nimmerwiedersehen.
    »Das ist doch wirklich nicht zu fassen!« Sie sprach laut, als hätte sie Zuhörer. Schnell holte sie sich einen Stift und einen Kalender aus der Tasche und notierte sich die Nummer und die Abfahrtszeit des Busses. Das würde noch Folgen haben. Als der nächste Bus kam, hielt er an.
    Verärgert stieg sie ein. »Finden Sie das okay, dass die Linie 22 nicht angehalten hat?«
    Der Busfahrer schien das nicht so dramatisch zu finden. »Wahrscheinlich hat er Sie nicht gesehen.«
    »Nicht gesehen? Ich trage immerhin ein fuchsiafarbenes Kopftuch, mit dem jeder Jumbojet eine sichere Landung hinbekäme!«
    Der Busfahrer fuhr weiter, ohne ihr eine Antwort zu geben. Sie musste sich an der Stange festhalten, damit sie nicht umfiel.
    Sie trug ein Kopftuch und keine Hadeskappe, die sie unsichtbar machte. Allmählich dämmerte ihr, dass vielleicht doch ein Fünkchen Wahrheit daran war. Hatte sie Amal Hayati nicht auch übersehen, als sie im Wartezimmer saß? Es war schon irgendwie paradox. Sie hatte sie gesehen, oder besser gesagt, sie hatte eine Frau mit Kopftuch gesehen, doch Amal Hayati hatte sie nirgendwo gesehen. Sie war da, zugleich aber auch nicht. Sie hatte über eine Stunde dafür gebraucht, der Frau mit dem Kopftuch einen Namen zu geben. Es konnte also stimmen, dass Frauen mit einem Kopftuch tatsächlich unsichtbar wurden. Das war alles sehr verwirrend, aber auch sehr spannend. Ob es ihnen darum ging? Unsichtbar zu werden? Trugen diese Frauen alle ein Kopftuch, damit sie nicht wahrgenommen wurden? Das hatte fast phantastische Züge. Einer der großen, bislang noch nicht erreichten Träume der Menschheit war es, unsichtbar zu werden. Offenbar war das bislang nur Illusionisten und Muslimas gelungen. Sie war erschüttert. Die Möglichkeiten, die das eröffnete, waren unvorstellbar. Muslimas konnten mächtig und unverletzbar sein, sie konnten sich mit Leichtigkeit in dieser großen Stadt bewegen, zugleich aber unbeachtet bleiben. Das Kopftuch sorgte dafür, dass sie gar nicht da waren. Welche Freiheit! Sie unterdrückte ein Lachen. Früher wäre sie nie auf die Idee gekommen, ein Kopftuch mit Freiheit zu assoziieren.
    Sie musste das genauer untersuchen. Sie drückte auf den Knopf, um auszusteigen. Während sie die Nummer der Sekretärin im Handy aufrief, stieg sie aus und lief eilig in die Richtung zurück, aus der sie mit dem Bus gekommen war. Sie wollte ihr Auto holen und zu Amal Hayati fahren.
    Sie musste Amal Hayati von ihren Beobachtungen berichten und wollte sie fragen, ob das Vermögen, unsichtbar zu werden, einer der Gründe war, weshalb sie ein Kopftuch trug.
    Eilig ging sie zu ihrem Wagen und versuchte sich die Adresse zu merken, die die Sekretärin ihr gerade durchgegeben hatte. Vor lauter Aufregung wäre sie fast auf den Hund der Nachbarin getreten, die wieder an ihr vorbeikam. Diesmal ignorierten sie beide einander.
    Amal Hayati sah in ihrer halblangen orientalischen Tunika vollkommen anders aus. Das Tuch, das sie lässig über den Kopf und die Schultern gelegt trug, glitt ihr langsam vom Kopf, als sie mit offenem Mund die Frau vor ihrer Tür anstarrte.
    »Bitte entschuldigen Sie, dass ich einfach so unangekündigt bei Ihnen vor der Tür stehe, Frau Hayati. Ich hoffe, ich störe nicht.«
    »Sie? Wieso tragen Sie ein Kopftuch?«
    »Äh, nun ja, kann ich vielleicht kurz hereinkommen?«
    Amal Hayati nahm sich die

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