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Ueber die Liebe und den Hass

Ueber die Liebe und den Hass

Titel: Ueber die Liebe und den Hass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachida Lamrabet
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nehmen, so wie ein tiefgläubiger Mensch auch bereit war, sein Schicksal hinzunehmen. Mutig und still.
    Ansonsten gab es keinerlei Sicherheit.
    Und während ich mich wie ein junger Spross in ihrem Körper entfaltete, reifte ihr Plan.
    Vielleicht war die Entgleisung doch zu vermeiden.
    Jedes Gelenk und jeder Knochen, der sich formte, tat weh. Es war fast so, als wüchse ich zu einem alten Mann heran.
    Anfangs war ich mir nicht darüber im Klaren gewesen, dass außer meinem Kopf auch noch etwas anderes an mir wuchs. Beinchen, Arme, eine Wirbelsäule, die wie ein gekrümmtes Seepferdchen den oberen und unteren Teil meines Körpers miteinander verband.
    Ich konnte es in jeder einzelnen zarten Faser spüren, in jeder sich entfaltenden Handfläche, in den winzigen Organen, die erst langsam und zögerlich das Blut in sich zirkulieren ließen und es dann mit vollster Überzeugung durch den Körper pumpten, als hätten sie nie etwas anderes getan.
    Das Leben schmerzte ganz fürchterlich. Es zerrte an mir wie ein heimtückischer Quälgeist, der mir schon mal zeigen wollte, was mir noch alles bevorstand.
    In der zehnten Woche gab es dann auch noch ein Geschlechtsteil. Es hatte sehr lange gebraucht, bis es endlich in Erscheinung getreten war. Im Vergleich mit meinem Herz oder meinem Gehirn war es eher primitiv, und dennoch würde dieses Organ meine Identität bestimmen. Meine Mutter hatte tief Luft geholt, als sie hörte, dass es ein Junge wird. Die Furcht würde sie nie mehr verlassen.
    » Rajel, rajel !«
    »Schön, oder? Das erste Kind, und dann gleich ein echter rajel !«
    Der Gynäkologe ließ den Apparat noch einmal über den Bauch meiner Mutter gleiten. Mir passte dieser schamlose Eingriff in meine Privatsphäre überhaupt nicht. Anfangs war mir auch nicht ganz klar gewesen, wonach dieser unverschämte Voyeur suchte.
    »Schön, schön, schön«, murmelte er zufrieden und bewegte weiter den Apparat hin und her. In einem unbeobachteten Moment spreizte ich kurz meine Beinchen. Der Gynäkologe hielt den Apparat an und krähte triumphierend: »Shouf, shouf , rajel , seht ihr es auch! Ganz eindeutig. Also, Frau und Herr Aboulakal, sehen Sie, da können wir uns jetzt mal ganz sicher sein.« Er sprach ein schwungvolles Niederländisch, das die Neigung hatte, ein wenig spöttisch zu klingen, vor allem wenn er seiner Begeisterung Ausdruck verleihen wollte.
    Das war wirklich etwas Eigenartiges. Das Geschlecht. Offenbar hatten die Erwachsenen die Welt rund um das Geschlecht hierarchisch strukturiert. Ihre Normen und Werte wurden gänzlich von einem geschlechtsspezifischen Blick auf die Welt bestimmt. Und das Ding baumelte da unten unbeteiligt und offenbar auch ohne jeglichen Nutzen herum. Die Tatsache, dass ich ein Junge war, erhob meine Mutter und meinen Vater in den Augen des Gynäkologen zu privilegierten Eltern. Sie hatten damit das Recht, auf Eltern mit einem Mädchen herabzuschauen.
    Meine Mutter machte das nervös. Die Gefahr der Entgleisung war wieder in den Vordergrund gerückt.
    Ich fand das ungeziemend und trat nach dem Apparat. Schauen Mütter nach der Geburt denn nicht erst einmal in die Augen ihres Babys?
    Mich würde es nicht wundern, wenn der Gynäkologe mich gleich nach der Geburt an den Beinchen packt und mich ungeniert kopfüber hängen lässt, um den Umstehenden mein nichtssagendes Organ zu präsentieren.
    Wie kommt es nur, dass einem so kleinen und eher beiläufigen Organ eine so große Bedeutung beigemessen wird?
    »Dein Doktor Volkers mit seinem Globetrotter-Arabisch gefällt mir nicht«, hörte ich meinen Vater zu meiner Mutter sagen, als wir wieder draußen waren. »Findest du nicht auch, dass er mit seinem rajel -Getue ziemlich übertrieben hat?«
    Meine Mutter versuchte es mit einem Lachen abzutun und warf einen entzückten Blick auf das Stückchen Papier mit dem Ultraschallbild. »Er ist einfach perfekt!« Ich fühlte mich geschmeichelt.
    Natürlich ist das Unsinn, doch nachdem mein Geschlecht feststand, kam es mir so vor, als sei die Temperatur des Fruchtwassers ein wenig kühler geworden. Nach dem Besuch beim Gynäkologen holte meine Mutter das Mahagonikästchen, das innen mit Kupfer ausgekleidet war, entschlossen aus dem Schrank hervor und stellte es gut sichtbar in die Mitte des Küchentischs. Das Kästchen enthielt bereits einige Kassenbons. Und ich brauchte ein paar Wochen, bis ich endlich verstand, womit sie beschäftigt war.
    Meine Mutter hat ein Bedürfnis nach Sicherheit. Dass alles so wird, wie

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