Ueber die Liebe und den Hass
sie widerwillig fest. Dabei wäre es ihr viel lieber gewesen, vergnügt und mit frischem Elan in das neue Lehrjahr zu starten. Sie trank einen Schluck von ihrem bitteren, eiskalten Kaffee und warf einen Blick auf die Uhr in der Bildschirmecke. Es war 11:30 h, sie überlegte, dass sie schon jetzt in die Stadt aufbrechen könnte, wo sie sich mit einer Freundin zum Mittagessen verabredet hatte. Sie war zwar eine halbe Stunde zu früh dran, aber sie hielt es nicht länger in ihrem Büro aus.
In dem Bistro, in dem sie sich verabredet hatten, war noch nicht viel los. Sie wählte einen Tisch an dem großen Fenster mit einem guten Blick auf die Straße und die Fußgänger. Ihr fiel auf, dass mehr Frauen als Männer unterwegs waren und viele von ihnen eine andere Hautfarbe hatten. Einige hatten eine besonders hübsche Frisur, andere trugen ihr Haar lang, in einem strengen Zopf oder einem lässigen Knoten am Hinterkopf. Einige verbargen ihre gewiss üppige Haarpracht unter einem bunten Kopftuch. Sie zählte drei Kopftücher während der ersten Viertelstunde, die sie am Fenster saß. Sie war bestürzt darüber, dass sie in dieser Stadt alle fünf Minuten mit einem Kopftuch konfrontiert wurde. Es war ihr zwar zuvor bereits aufgefallen, doch nicht so oft, und auch damals hatte es sie gestört, aber eher theoretisch. Sie hatte sich nur beiläufig nach dem Grund gefragt.
Sie bedauerte diese Frauen, wenn sie ihr zufällig auffielen, doch danach hatte sie sie schon bald wieder vergessen. Für sie waren sie nur Schattengestalten, die ohne Gesicht, ohne Persönlichkeit, gekennzeichnet durch ein Kopftuch, den Blick starr nach unten gesenkt, mit gekrümmtem Rücken an den Häusern vorbeigingen, um möglichst schnell von einem Punkt zum nächsten zu gelangen. Die Öffentlichkeit schien nicht zu ihrer natürlichen Umgebung zu zählen.
Doch als sie nun genauer hinsah, stellte sie fest, dass die meisten von ihnen erhobenen Hauptes durch die Straßen gingen und ihren Raum für sich beanspruchten. Waren sie mit mehreren Frauen unterwegs, dann lachten sie oder waren ins Gespräch vertieft, wahrscheinlich auf Niederländisch, so tadellos wie das von Amal Hayati, inzwischen konnte sie sich das sehr gut vorstellen.
Sie überlegte, was Amal Hayati gerade machte.
»Na, du Traumsuse, sitzt du schon lange hier?«
Sie schaute auf, und bevor sie ihrer Freundin eine Antwort geben konnte, bekam sie schon einen Begrüßungskuss von ihr auf die Wange.
»Hast du schon bestellt? Und was hast du denn eben so konzentriert beobachtet? Ich stand draußen und habe dir zugewinkt, doch du hast einfach durch mich hindurchgeschaut! Es ist doch hoffentlich nichts passiert?«
Sie sprach kaum während des Essens und antwortete nur knapp auf die Fragen ihrer Freundin. Eigentlich hörte sie auch nur mit halbem Ohr dem Geplauder ihrer Freundin zu.
Als sie beim Kaffee angekommen waren, fiel ihr eine lärmende Gruppe Jugendlicher auf, die Rucksäcke und Taschen mit sich herumschleppten und teils auf dem Gehweg, teils auf der Straße gingen. Ein großer Mann mit einem Regenschirm in der Hand versuchte die Gruppe zusammenzutreiben, wie ein Schäfer, der noch nicht lange, aber sichtlich gegen seinen Willen in diesem Beruf gelandet war. Er wirkte erschöpft. Seine Ermahnungen an die Jugendlichen unter malte er mit weit ausholenden Bewegungen seines Schirms.
Vom Bistro aus konnte sie seine Befehle nicht verstehen. Die Jungen und Mädchen, die er im Zaum zu halten versuchte, taten einfach so, als würden sie ihn nicht hören, und liefen wild durcheinander und laut krakeelend weiter. Auch so würden sie zu ihrem Ziel gelangen, auch wenn es ein todlangweiliges Museum mit leblosen Exponaten und entsprechend langweiligen Geschichten sein würde, dachte sie.
Sie zählte in der Horde vier Gesichter mit einem hellen Teint.
»Ist dir auch aufgefallen, dass heutzutage mehr Frauen und sogar junge Mädchen ein Kopftuch tragen?«
Ihre Freundin schob sich gerade eine Praline in den Mund und konnte nicht sogleich antworten, nickte aber zustimmend.
»Ich frage mich wirklich, was sie dazu treibt und wohin das führen soll. Was denken diese Frauen und Mädchen nur, was erwarten sie vom Leben? Gibt es denn keinen Widerstand gegen diese Ungleichheit?«
Ihre Freundin nickte wieder und fühlte sich verpflichtet, auch etwas zu diesem Thema zu sagen. »Diese armen marokkanischen Mädchen haben noch einen ziemlich langen Weg vor sich.«
»Nicht nur Marokkanerinnen tragen ein Kopftuch,
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