Ueber die Liebe und den Hass
stramm gebunden«, seufzte sie.
Als sie die letzte Stecknadel aus dem Tuch herausgezogen hatte, nahm sie eine kleine Vorratsschachtel aus der Schublade und schob das Stecknadelhäufchen hinein, das sich auf dem Tisch angesammelt hatte.
Das Kopftuch stand nun unelegant vom Kopf der Dozentin ab, die ein wenig betreten einen Schluck von ihrem bitteren Tee trank.
Amal Hayati kam wieder zurück zum Tisch, nahm ihren Tee, der inzwischen nur noch lauwarm war, stellte den Becher ab und legte ihre Hände flach auf den Tisch. Sie trug noch immer ihren Ehering.
»Weshalb sollte ich unsichtbar werden wollen? Glauben Sie etwa, ich will Sie damit foppen oder so? Ich will Ihnen nicht den Kopf abhacken und als Trophäe nehmen, ich will einfach nur eine Ausbildung machen, verstehen Sie das?«
»Aber Ihre Mädchen.«
»Was soll mit meinen Mädchen sein?«
»Und wir, Sie und ich und alle Frauen, all das, wofür wir gekämpft haben und was wir erreicht haben?« Verzweiflung klang in ihrer Stimme mit, die vor lauter Emotionen fast kippte.
Amal schüttelte den Kopf. »Warum suchen Sie so weit weg?«
Sie erhob sich, nahm ihren Becher und stellte ihn zum Abwasch in die Spüle. »Meine Mädchen«, sagte sie und drehte sich zu der Frau am Küchentisch um. »Erklären Sie mir doch bitte einmal, wie ich meine Mädchen zu starken und unabhängigen Frauen erziehen soll, wenn es mir selbst nicht gelingt, mein Leben auf meine Art zu führen?«
Nun erhob sich auch die Dozentin. Plötzlich wurde sie sich des Kopftuches bewusst, das sich bereits seit einer Weile wie ein zerknitterter Lappen auf ihrem Kopf befand, und zog es weg. Sie knüllte das Tuch zu einem Ball, den sie achtlos in ihre Handtasche steckte.
»Wovor haben Sie Angst?« Mit vor der Brust verschränkten Armen näherte sich ihr Amal.
»Ich habe Angst davor, dass es Männern mit dem Umweg über Gott wieder gelingt, Frauen auf ein Ding zu reduzieren und sie in allem zu unterdrücken.«
»Finden Sie es denn weniger schlimm, wenn Männer und Frauen im Namen von etwas anderem als dem Namen Gottes andere unterdrücken?«
Die Frauen sahen einander einen Moment lang stillschweigend an. Eines der Mädchen kam in die Küche, um zu fragen, ob es jetzt fernsehen dürfe.
»Ich will Ihre Zeit nicht noch weiter beanspruchen. Es tut mir leid, dass ich hier einfach so eingefallen bin. Vielen Dank für den Tee.«
Sie ging zum Ausgang. Amal folgte ihr.
Die Dozentin zögerte kurz, als sie in der geöffneten Tür stand. Sie sah Amal an. »Es tut mir leid, dass ich Sie heute Morgen so lange habe warten lassen.«
Ohne sich umzudrehen, ging sie die Straße hinunter.
Ammetis, der Schläfer
Hyles euphorbiae; die Puppe des Wolfsmilchschwärmers kann bis zu 5 Jahre in der Diapause verharren.
Entgleisung. Das war die größte Angst meiner Mutter. Sie hatte eine panische Angst vor Menschen, die sich mit unglaublicher Dreistigkeit von den ausgetretenen Wegen entfernten und unterwegs im Zickzackgang eine Spur der Verwüstung hinterließen, ohne sich auch nur im Geringsten um den angerichteten Schaden zu kümmern. Diese Angst raubte ihr nächtelang den Schlaf.
Manchmal hatte sie das Gefühl, einer Erklärung sehr nahe zu sein. Dann stand sie auf und holte ihr Heft hervor, in das sie einige Gedanken hineinschrieb. Gekritzel, woraus sie später erklärende Theorien ableiten wollte. Doch am nächsten Morgen konnte sie nie entziffern, was sie in der Nacht notiert hatte, und sie konnte sich zu ihrem großen Ärger auch nicht mehr an die nächtlichen Einfälle und Eingebungen erinnern, so kurz vor dem Frühstück.
Dennoch vergaß sie nie, was sie umtrieb. Wovon sie besessen war.
Das Risiko der Entgleisung auf null zu reduzieren.
Als sie endlich ausgetüftelt hatte, wie sie das Risiko minimieren konnte, wie sie sich gegen unerwünschte Vorfälle und Wendungen schützen konnte, beschloss sie doch, schwanger zu werden.
Die Chancen standen eins zu zwei. Eins zu zwei, dass es ein Mädchen würde, und damit war das Risiko über fünfzig Prozent geringer, dass etwas schiefginge. Statistisch gesehen hatten Mädchen eine größere Chance, volljährig zu werden. Mädchen waren brav und hatten Angst. Davon war sie felsenfest überzeugt, da sie selbst ein Musterbeispiel für gutes Benehmen war. Sie war fürsorglich und aufmerksam, und sie liebte ihre Eltern, sie würde ihnen nie wehtun.
Und falls sie einen Jungen bekäme, wäre die Verantwortung zwar ein schweres Joch, doch sie war bereit, sie auf sich zu
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