Ueber die Liebe und den Hass
sie es will. Zu viel Ungewissheit ist da nicht gut.
Sie war ziemlich ängstlich, meine schöne, junge, zum ersten Mal schwangere Mutter.
Ich möchte sie euch kurz vorstellen. Fünfundzwanzig, intelligent und hübsch. Eine Mutter, die ich als kleiner Junge gern heiraten würde. Auf die ich stolz sein würde, wenn sie mich nach der Schule am Ausgang erwartete. Später würde sie bei meinen pubertierenden pickeligen Freunden Objekt ihrer heimlichen Phantasien sein.
Aber da sind wir noch nicht, noch lange nicht.
Meine Mutter hatte sich vorgenommen, dass ich erfolgreich und gut sein sollte. Ich würde nicht so wie die anderen werden. Dafür würde sie schon sorgen.
Kein Nest aus Watte, sondern Mut zur Auseinandersetzung und Rechenschaft ablegen.
Alles würde von ihr notiert werden. Die neun Monate, die ich in ihrem Körper gewohnt hatte. Die Kräfte, die ich ihr entzogen hatte. Die Morgenübelkeit, die Blässe. Die hässlichen Streifen auf ihrem Bauch und den Brüsten. Auch die schlaflosen Nächte. Und mein Vater, der durfte sie nicht mehr anfassen. Sie fand, er stank nach Hühnchen. Bis auf den letzten Cent führte sie präzise Buch über alle Ausgaben, die mich betrafen. Die Arztrechnungen, die zahlreichen Quittungen über Vitamine, Salben, Söckchen, Strampelanzüge, den Buggy und das Kinderbett, die Kuscheltiere und die Kissen. Die komplette Ausstattung. Es bereitete ihr durchaus Freude, die Sachen auszusuchen und genau darauf zu achten, dass alles zueinanderpasste. Sie hatte einen Blick fürs Detail. Mein zukünftiges Kinderzimmer hätte ohne weiteres in einem Schöner-Wohnen-Magazin abgebildet werden können.
Schließlich war ich ihr Kind. Ihr erstes Kind. Sie wollte mich unbedingt und um alles in der Welt bekommen. Sie liebte mich bereits jetzt. Doch sie war wachsam, und nichts durfte dem Zufall überlassen werden. Das kam alles von der Risikoanalyse. Meine Mutter war nämlich der festen Überzeugung, dass es bei mir ein erhöhtes Risiko für Entgleisung gab. Ein Risiko, furchtbar schlecht zu werden.
Solche Negativ-Vorbilder kannte sie zuhauf. Das schlimmste war ihr eigener Bruder. Mein Onkel. Mit ihm wollte sie nichts mehr zu tun haben. Die Briefe, die er ihr aus dem Gefängnis schrieb, öffnete sie nicht mehr. Als hätte sie Angst, sie könnte damit etwas von seiner Welt in ihr Heim einschleppen. Sie hatten ihn aus ihrem Leben verbannt und somit dafür gesorgt, dass er für niemanden zum Vorbild werden konnte. Und die Quittungen, die sie nun sammelte, waren für den Fall gedacht, dass trotz all ihrer Bemühungen etwas mit mir schiefgehen sollte. Sie zweifelte nicht daran, dass sie ihren eigenen Sohn genauso einfach verstoßen könnte wie ihren Bruder, wenn ich vom rechten Weg abkam. Doch erst einmal führte sie Buch. Damit ich später sehen konnte, welch immensen finanziellen und auch emotionalen Einsatz sie für mich erbracht hatte. Wie sehr sie sich aufgeopfert hatte, um mich zu bekommen. Vielleicht würde ich es mir dann zweimal überlegen, bevor ich mich in falsche Gesellschaft begab, mit Drogen in Berührung kam, meine Lehrer anpöbelte und viel zu früh die Schule verließ. Zweimal überlegen, bevor ich ein Auto knackte. Sollte ich entgleisen, würde sie zur Nebenklägerin gegen mich werden. Dank ihrer präzisen Buchhaltung könnte sie dann genau belegen, bis zwei Stellen hinter dem Komma, welchen Schaden ich ihr zugefügt hatte. Alles, jeden Cent, den sie in mich investiert hatte, müsste ich ihr dann zurückzahlen, und natürlich hatte sie auch den moralischen Schaden beziffert. Und wenn ihre Rechnungen bezahlt wären, ihr Schaden vergolten und alles beglichen wäre, würde sie so tun, als hätte sie keinen Sohn. Das hatte sie sich fest vorgenommen.
Meine leibliche Mutter! Also, ich finde schon, dass man so einem Kerl wenigstens eine Chance geben sollte, oder?
Eine Auszeit, Leute! Kurz anhalten. Unter diesen Umständen kann man doch nicht weitermachen.
In meiner zwanzigsten Woche traf ich deswegen eine schwierige, aber notwendige Entscheidung.
Meiner Mutter war wieder übel, und sie machte sich Sorgen, weil sie mich nicht mehr spürte.
»Komm, mach schon, Zinedine, tritt mal gegen meine Hand. Mach es für Mama.«
Ich dachte überhaupt nicht daran, mich zu regen. Jetzt nicht, Mutter.
Gestern, während der monatlichen Kontrolluntersuchung, hatte der Gynäkologe ihr noch versichert, dass alles in bester Ordnung sei. Alles an mir war genau so, wie es zu diesem Zeitpunkt sein musste, ich befand
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