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Ueber die Liebe und den Hass

Ueber die Liebe und den Hass

Titel: Ueber die Liebe und den Hass Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rachida Lamrabet
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mich schön in der Mitte der Wachstums- und Gewichtskurve. Statistisch gab es keinerlei Anlass zur Beunruhigung. Als sie wieder angezogen war, hatte ich mich gemächlich in den Schlafmodus begeben. Ich rollte mich zu einem kleinen, unbeweglichen Ball zusammen. Mit dem Daumen im Mund schloss ich die Augen. Auf dem Heimweg wurde ich in den Schlaf gewiegt. Mein Herzrhythmus wurde langsamer, und alles badete in einem gebrochenen Weiß.
    »Mach dir keine Sorgen, Liebes, er ist bestimmt nur müde von der ganzen Treterei während der vergangenen Tage. Weißt du, Babys nehmen sich manchmal auch einen Ruhetag. Und du bewegst dich viel, es kann auch sein, dass du ihn nicht spürst, weil du immer so beschäftigt bist.«
    Mein Vater versuchte sie während der ersten Tage zu beruhigen, aber sie wusste, dass etwas nicht stimmte. Am dritten Tag stand meine Mutter wieder beim Gynäkologen auf der Matte. Vollkommen aufgelöst hatte sie ihn angerufen, und er ließ sie schließlich kommen. »Lieber einmal zu viel untersucht«, hatte er gesagt.
    Sie wurde an einen Monitor angeschlossen. Von dem Moment an, als sie meinen Herzschlag hörte, atmete sie erleichtert auf. Doktor Volkers lauschte eine Weile.
    Ich weiß genau, dass es ihr am liebsten gewesen wäre, man hätte sie während der noch verbleibenden zwanzig Wochen mit diesem Apparat verkabelt. Damit sie jede Sekunde meine Temperatur kontrollieren, die Herzfrequenz und meine Bewegungen beobachten konnte.
    »Und warum bewegt er sich nicht?«, fragte sie.
    »Er schläft. Babys brauchen viel, sehr viel Schlaf.« Der Arzt antwortete und machte sich ein paar Notizen.
    »Allerdings ist sein Herzschlag sehr ruhig«, sagte er schließlich.
    Meine Mutter federte hoch.
    »Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen«, versuchte er sie schnell zu beruhigen. »Vorerst ist alles noch ganz normal, aber wir behalten Sie zur Beobachtung heute Nacht lieber hier.«
    Ich fühlte mich schuldig, weil sie sich die ganze Nacht schlaflos herumwälzte. Aber ich blieb bei meinem Entschluss, sie war einfach zu weit gegangen mit ihren Quittungen. Jeden Kassenzettel hatte sie aufbewahrt, egal mit welchem Betrag, und zwar vom ersten Tag an nach ihrer ersten Untersuchung beim Frauenarzt.
    Und als sie dann mein Geschlecht erfuhr, hatte sie das Mahagonikästchen herausgeholt, als wolle sie nun Ernst machen. Jeden Sonntagabend, wenn sie keine Ausgaben mehr tätigen konnte, führte sie Buch über die vergangene Woche in einem großen himmelblauen Buch mit weißen Seiten zum Einkleben und dem fröhlichen Titel Mein erstes Baby!. Neben jeden Kassenzettel, den sie an der Stelle einklebte, an die eigentlich das erste Ultraschallbild hingehört hätte, notierte sie das Datum, beschrieb das erworbene Produkt und fügte einen kurzen persönlichen Kommentar hinzu.
    Sie hatte zum Beispiel neben die Quittung vom Babyshop am 23. März Folgendes geschrieben: »Freya meint, das hier sei DAS Wundermittel überhaupt gegen Schwangerschaftsstreifen. Frühzeitig mit dem Eincremen beginnen, so lautet die Botschaft. Bin gespannt, ob es funktioniert, riechen tut es jedenfalls schon mal gut.«
    Unter dem Kassenbon mit demselben Datum für Babysöckchen: »Ich konnte einfach nicht widerstehen!!! So winzig! Der Wahnsinn, und so süß!«
    Nach den ersten zwei Monaten brachte sie es bereits auf einen Betrag von 421 Euro, inklusive Arztkosten. Mit rosa Textmarker unterstrich sie ihre vorläufige Endsumme und schrieb dazu: »Echt verrückt, was so eine kleine Zygote kostet!«
    Ende der Woche hatten die Ärzte herausgefunden, dass meine Körperfunktionen auf sehr niedrigem Niveau abliefen. Mein Stoffwechsel hatte sich verlangsamt, und nach drei Wochen trafen sie gemeinsam die erschütternde Diagnose. Physiologischer Entwicklungsstillstand.
    Endlich hatten sie verstanden, dass ich nicht mehr wuchs. Ärzte renommierter Universitäten rauften sich die Haare, weil ihnen nirgendwo aus der Geschichte der Medizin ein ähnlicher Fall bekannt war.
    Und meine zukünftige Großmutter streckte die Hände zum Himmel, denn an mythischen und phantastischen Geschichten zu diesem Thema mangelte es nicht, ganz im Gegenteil. Ihre Schwiegertochter hatte einen ammetis in der Gebärmutter. Einen schlafenden Fötus. Und das war wirklich etwas ganz Schlimmes. Sie kannte Frauen, die liefen ihr ganzes Leben mit einer Frucht in sich herum, die nicht erwachen wollte, niemals geboren werden wollte. Unzählige Frauen hatte das kinderlos und unglücklich gemacht.
    Meine

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