Ueber die Liebe und den Hass
etwa halbstündiger Sermon über den Taxifahrer an, weil er ihm für diese lächerliche Strecke eine unverschämt hohe Summe abgeknöpft hatte. Und schließlich folgte immer das große Aufatmen, wenn sie sich endlich wieder auf der breiten Autobahn in Richtung Belgien befanden.
Irgendeinen Grund zum Fortgehen hatte er immer. Seine Frau glaubte ihm zwar schon lange nicht mehr, doch sie ließ ihn einfach ziehen. Überraschend früh war er in seinem Leben von Müdigkeit und Enttäuschung übermannt worden, die ihn lange Zeit blockiert hatten. Er hatte sein Leben nicht mehr im Griff. Tag für Tag zeigte sich ihm die Realität überdeutlich, sie war unumstößlich und definitiv, vor allem aber enthielt sie keinen Funken Hoffnung. Er konnte nichts mehr dagegen unternehmen.
Als es ihm schließlich doch gelang, die Passivität von sich abzuschütteln, entschloss er sich, alles zurückzulassen und zu emigrieren, zurück zu den Ursprüngen. Noch war es nicht zu spät. Doch seine Frau spielte nicht mit. Anfangs war seine Motivation hoch gewesen. Dann würde er notfalls eben ohne sie emigrieren. Doch nach ein paar Monaten in der Ferne gesellte sich eine andere Qual hinzu. Einsamkeit.
Und deswegen kehrte er zurück. Doch er konnte es nie lange an einem Ort aushalten. Immer wieder aufs Neue musste er diese Reise unternehmen. Von Nord nach Süd und von Süd nach Nord. Wie ein Verfluchter. Immer wieder aufs Neue. Ankommen, auspacken, ausruhen, sich umschauen, und dann wieder einpacken, aufbrechen und ankommen.
Seltsamerweise schien der Fluch zugleich auch ein Segen zu sein. Als würde die Reise von jemand anders angetreten. Das Leben, das er lebte, und der Mensch, zu dem er geworden war, blieben an dem Ort zurück, an dem er so schwer Wurzeln schlagen konnte. Wie ein Außenstehender sah er, wer er war, was er gut und was er schlecht machte, und vor allem, woher das zerstörende Gefühl des Versagens kam. Mit jeder Reise nahm die Schicksalsergebenheit zu. Grund dafür waren nicht so sehr seine unerfüllten Träume, sondern die seiner Söhne, die ihn traurig und manchmal ratlos machten.
Ja, es stimmte, sie hatten nie barfuß herumlaufen müssen, wie er manchmal als Kind. Gott sei Dank hatte er sie davor bewahren können. Doch sie vor der Umwelt zu bewahren, deren Feindseligkeit manchmal so verräterisch subtil war, schien um einiges schwieriger zu sein. Er machte sich Vorwürfe, weil er sie nicht vor allem beschützen konnte.
Vielleicht hatte er zu Beginn einen ganz gravierenden Fehler gemacht, als er als Neunzehnjähriger einen Teil der Ersparnisse seines Vaters ohne Erlaubnis entwendet hatte, um damit die Überfahrt zu finanzieren. Europa hatte ein Auge auf starke Männer geworfen. Er hatte gehört, in den großen nordmarokkanischen Städten würde es Gesandte aus dem Ausland geben, El Kharij , die junge Männer rekrutierten, damit sie beim Aufbau drüben helfen sollen. Und er wollte fortgehen, etwas von der Welt sehen und Geld verdienen.
Obwohl sein Vater sich lange nicht mit dem Gedanken anfreunden konnte, dass sein Sohn fortgehen wollte, hatte er ihm dennoch verziehen und ihm sogar seinen Segen mit auf den Weg gegeben. Wenn ein Mann fortging, brachte das vielen Menschen im Dorf Glück. Doch damals wussten sie noch nicht, dass ein Opfer nicht ausreichte, um das Glück fürs ganze Dorf zu sichern. El Kharij war eine zu große Verlockung für die stärksten und besten Männer des Dorfes. Sie mussten auch dorthin, es gab keinen anderen Weg.
Sie hatten sich geirrt.
Seine Jungen liefen zwar nicht ohne Schuhe herum, aber sie waren in ihren Handlungen gefesselt, sie kamen keinen Schritt voran. Inzwischen war aus dem Bergdorf ein Ort geworden, in dem nur noch diejenigen lebten, die nicht mehr wegkonnten. Er hatte gehofft, das Blatt zu wenden, indem er das Haus seines Vaters komplett renovierte, doch seine Söhne weigerten sich standhaft, auch nur die Sommerferien in den Bergen zu verbringen, ohne den Komfort, den sie gewohnt waren: kein fließendes Wasser, keine Elektrizität, kein Meer, kein Supermarkt.
Und so wurde der Ort zu einem Wallfahrtsort für all diejenigen, die sich mit nostalgischen Gefühlen an ihre Jugend dort erinnerten und fest davon überzeugt waren, dass sie nie wieder so gutes Brot gegessen und so reines Wasser getrunken hatten wie damals. Er fuhr jedes Jahr mit seiner Frau, aber ohne die Kinder, für ein paar Tage in das Dorf. Und wenn er dann einen Fuß auf das Grundstück seines Vaters setzte, fühlte er
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