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Ueber die Verhaeltnisse

Ueber die Verhaeltnisse

Titel: Ueber die Verhaeltnisse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Frischmuth
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brauchte sie auch keine Umwege mehr.
    Es dauerte nicht lange, bis sie die schmale Verbindungsstraße zwischen den beiden großen, zum Ring hin ausstrahlenden Boulevards erreicht hatte.
    Nr. 17. Die Fassade braunschwarz von den Abgasen der Stadt imprägniert, und in der Höhe des Mezzanins waren noch die alten Einschüsse zu sehen. Das Tor war nicht versperrt, und sie trat zum Briefkasten. Der Name, der jetzt auf ihrem Postfach klebte, war ihr unbekannt. Hajdúszoboszlói. Merkwürdig. Auch die anderen Namen waren ihr zum Großteil nicht oder nicht mehr geläufig. Ganze Straßenzüge waren damals emigriert.
    Sie trat in den Hof. Die Wohnungen in den oberen Stockwerken waren von dünnen Eisenstangenbalkons aus zu betreten. Vor der Tür, hinter der sie einst gewohnt hatte, stand ein riesiger Asparagus, dem die Nadeln abgefallen waren. Um diese Jahreszeit stellte man auch keinen Asparagus vor die Tür.
    Dann fiel ihr Blick auf das ebenerdige Fenster der kacsa néni. Alle Kinder im Haus hatten die alte Frau so genannt, die Enten-Tante, weil im Märchen die Hexe eine eiserne Nase hat und ihre Burg sich auf Entenfüßen dreht. Die kacsa néni war ihr damals schon ungeheuer alt vorgekommen, obwohl die Frau vielleicht erst Mitte fünfzig war. Breitarmig war sie die meiste Zeit auf dem Fensterbrett gelehnt und hatte mit bissigen Bemerkungen nach den Vorübergehenden geschnappt. Sie hatte ein Fußleiden und verließ das Haus so gut wie nie. Nureinmal hatte Borisch sie gehen sehen. Sie hatte tatsächlich einen Watschelgang, vielleicht war ihr der Name auch deshalb geblieben. Der Baum, den es früher im Hof gegeben hatte, fehlte. An seiner Stelle stand eine Mischmaschine, und in dem Sandhaufen daneben lag ein kleines rotes Plastikauto.
    Borisch ging ganz nahe an die Kacsa-Néni-Tür heran, um zu sehen, welcher Name da nun stand. Plötzlich hörte sie, wie das Fenster sich öffnete, und sie erschrak so sehr, daß sie ein paar Schritte zurückstolperte.
    Eine vollkommen ausgebleichte, hagere Gestalt in einem blaßrosa Bettjäckchen lehnte sich aufs Fensterbrett und sagte mit wackelndem Kopf: »Na, Borisch, hast du dir wenigstens den Hintern ordentlich verbrannt?«
    Borischs Herz begann so wild zu klopfen, daß ihr schwindlig wurde und sie für einen Augenblick meinte, das Bewußtsein zu verlieren. Als sie sich wieder im Griff hatte, war das Fenster geschlossen, und sie konnte sehen, wie jemand ein helles langes Bündel ins Innere der Wohnung zu zerren versuchte. Gekreisch und besänftigende Worte drangen an Borischs Ohr, aber da es bereits zu dunkeln begann und in der Wohnung noch kein Licht brannte, entzog sich alles Weitere ihrem Blick.
    Laufend verließ sie den Hof und nahm in der Wesselényi-Straße ein Taxi, das sie zum Hotel brachte.
    »Und weißt du, was so komisch daran ist«, sagt Borisch, als sie es Mela erzählt, »daß ich noch immer glaube, die Alte hat nur deshalb so lange gelebt, um mir das sagen zu können.«
    Durch die überstürzte Rückkehr ins Hotel kam Borisch sich wie in der eigenen Falle gefangen vor. Es hatte wieder zu nieseln begonnen, und als sie das Fenster öffnete, kam ihr ein eisiger Windschwall entgegen. Sie beschloß, im Hotel zu essen, ließ es zu, daß der Primas der Hotelkapelle ihr ins Ohrgeigte und ein anderer einsamer Gast ihr zuzwinkerte. Doch als dieser sich nach dem Essen zu ihr setzen wollte, stand sie auf und sagte, sie müsse dringend nach oben, da sie noch einen Anruf erwarte.
    Sie telefonierte dann auch mit Edvard und schärfte ihm noch einmal ein, um wieviel Uhr er auf dem Bahnhof sein müsse, um sie abzuholen.
    Es war noch nicht spät, und sie begann im Telefonbuch zu blättern. Sie suchte nach den Namen früherer Bekannter, aber bald merkte sie, daß ihre einstigen Bekannten sehr gebräuchliche Namen hatten. Géza Molnár zum Beispiel – eine halbe Seite.
    Ihr Finger stolperte über einen Namen, der ihr nur noch in Angst- und Verfolgungsträumen wieder einfiel, Rózsika Mátray. Es gab nur eine Rózsika Mátray im Telefonbuch, und sie wußte nicht, was sie davon halten sollte. Sie hatte eine Freundin namens Rózsika Mátray gehabt, eine Schulfreundin, und das letzte, was sie von ihr in Erinnerung hatte, war, daß sie beide durch einen Kugelhagel liefen. Als Borisch endlich in Deckung war und sich nach Rózsika umdrehte, konnte sie sie nicht mehr sehen.
    »Es hat sie erwischt«, sagte jener Géza Molnár, der nach ihr in den Hauseingang hatte flüchten können. Borisch wollte wieder

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