Ueber die Verhaeltnisse
Der Spiegel überträgt den Glanz des Perlmutts. Frô rührt sich noch immer nicht. Sie ist ganz blaß, nur ihre rot geschminkten Lippen zucken.
»Daß ich es gar nicht bemerkt habe …« Und da ist ihr Gesicht schon naß. Mela weiß nicht, wann sie dieses Kind zum letzten Mal hat weinen sehen. »Perlen bedeuten Tränen!« hat Borisch zu ihr gesagt, aber sie hat sich nicht abbringen lassen, so gut, wie sie Frô zu Gesicht stehen mußten. Da fällt ihr das Kind auch schon um den Hals und ist gar nicht so leicht zu beruhigen. Mela verflucht ihre Prunkgelüste, denn nebenbei hat der Unglücksbringer auch noch einen Haufen Geld gekostet.
Erst beim Essen kommt die alte Stimmung löffelweise wieder auf. Aber der Schatten unter Frôs Wimpern bleibt, eine Ferne des Blicks, so als hätte er gelernt, sich in einem Fremden zu spiegeln. Und selbst Mela ertappt sich dabei, wie sie heimlich Na Mahlzeit! sagt und damit meint, was wohl der junge Mann und der Chef diesmal für Weihnachten haben.Die Schriftsteller, dachte Borisch, während sie ihren Kaffee austrank, haben uns nicht enttäuscht. Weder 1848 noch 1956. Sie waren die tatsächlichen Führer des Landes. Nie würde sie den Anfang der Sieben-Punkte-Resolution vergessen, die der Schriftstellerverband an jenem 23. Oktober verlautbart hatte. »Wir haben einen historischen Wendepunkt erreicht. Wir wären nicht in der Lage gewesen, uns so gut in dieser revolutionären Situation zurechtzufinden, wenn sich nicht die gesamte ungarische Arbeiterschaft diszipliniert um uns geschart hätte. Die Führer von Staat und Partei haben versagt, als es galt, uns ein brauchbares Programm zu geben. Die Leute, die dafür verantwortlich sind, sind dieselben, die – statt die sozialistische Demokratie auszuweiten – hartnäckig zusammenhalten, mit dem Ziel, das Stalin- und Rákosi-Regime des Terrors wiederzuerrichten. Wir, die ungarischen Schriftsteller, haben die Forderungen der ungarischen Nation in den folgenden Punkten festgelegt.«
Die Nation mußte acht auf ihre Dichter haben, damit sie nicht über Nacht verschwanden. Natürlich hatte es Mitläufer gegeben, aber die wirklichen Dichter begingen keinen Verrat. Einer der größten von ihnen, dem man Anfang der fünfziger Jahre eine Stalin-Ode hatte abpressen wollen, hatte gesagt: »Ich hätte ruhig eine schreiben können, denn ich empfinde mich als Renaissance-Mensch. Aber es hat mich nicht gefreut.«
Nach dem Frühstück war Borisch zu Fuß über die Kettenbrücke hinüber nach Buda gegangen und dann zur Burg hinauf. Es hatte zwar zu regnen aufgehört, aber die Pfützen waren geblieben. Als sie oben ankam, waren ihre Waden vollgespritzt – rücksichtslos bis zum Gehtnichtmehr, diese Autofahrer. Wie eine kleine mittelalterliche Märchenstadt auf einem Hügel, so kam ihr alles vor, auf schön gemacht, wie für einen Cinemascope-Film.Und dennoch pochte ihr Herz. Sie ging sogar in die Matthiaskirche, aber da waren nur ein paar Touristen. Dreißig Jahre, dachte sie. Die Fischer-Bastei, das neue Hilton. Dreißig Jahre, dachte sie, fast zwei Drittel meines Lebens.
Vor der Burg stand noch immer jener riesige reitende Prinz Eugen. Warum sollte er auch nicht mehr da stehen, wenn er es all die Jahrzehnte geschafft hatte?
Sie ging bis zur Balustrade vor. Die Mittagssonne stach ihr scharf in die Augen, und sie weinte ein wenig. Im Rücken die ganze geschwollene Vergangenheit, vor sich die wieder zurechtgeschusterte Gegenwart und irgendwo darunter, wo man es von hier oben nicht sehen konnte, wie Abwasser, jene unrühmliche Zwischenzeit, voller Krieg und Aufstand, die achtzehn Jahre lang die ihre gewesen war.
Und als sie da so stand, befiel sie eine so unerhörte Einsamkeit, daß ihr ganzer Körper sich in Abwehr krümmte. So als wäre sie von jemandem in dieser ihr einst so vertrauten und jetzt so fremden Stadt ausgesetzt worden. Dazu hatte sie ein Gefühl, als ginge es ihr geradewegs ans Leben, als säße der Tod da unten und warte nur darauf, daß sie sich hinunterstürzte. Aber da war nicht viel zum Hinunterstürzen – ein sanfter Hang und darunter Häuser, die sie aufgefangen hätten. Zu lächerlich für eine so absolute Geste. Da hätte sie schon in den obersten Stock eines dieser neuerrichteten Hotel-Kolosse steigen müssen.
Plötzlich stand da jemand neben ihr. Mein Gott, dachte sie, seit wann trägt der Tod einen Schnurrbart?
»Darf ich Ihnen mein Taschentuch leihen?« fragte sie ein älterer Herr in einem dunkelblauen Hubertusmantel.
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