Ueber die Verhaeltnisse
seiner Befugnisse, damiter die Verantwortung, die man ihm nun so einfach zuschustere, mit vollem Recht tragen könne. Sein Ausdruck ist nach wie vor gewinnend, und Mela denkt mit Wehmut an einen der früheren jungen Männer zurück, der im Zuge olympischer Reibereien innerhalb von Jahren ein Wolfsgesicht bekam, fast unglaublich, wenn es nicht anhand von Fotos zu beweisen wäre. Aufmerksam forscht sie im Gesicht des Ihren, wes Raubtiers Züge da wohl während der nächsten Legislaturperioden zutage treten könnten. Ein nachts jagender Uhu vielleicht oder eine Schnee-Eule, wenn er bis dahin auch noch weiß wird. Du lieber Schwan, fährt es ihr durch den Kopf, vor nicht allzu langer Zeit ist er noch vor seinem eigenen Furz erschrocken, wenn der zu bestimmt klang, und jetzt? Jetzt kämpft er um seine Ermächtigung. Noch hat er Ideen, aber das Schlimme ist, daß er selber nicht genau weiß, was er da vorhat. Noch bringt er ein Lächeln zustande, das einen entwaffnet, aber wenn sie ihm das erst einmal ausgetrieben haben, wird es schwer sein, täglich das Gesicht hinzuhalten.
Der Chef hat eine Neun-Punkte-Resolution verfaßt und sich auch damit tiefer gestuft als sein Vorgänger, der es zumindest auf zehn Gebote gebracht hat. Aber es ist wohl eine Zeit der Abstriche.
Die anderen fordern die Köpfe der gesamten Olympier, stecken aber selber so tief in der brodelnden Konkursmasse, daß das Volk – gibt es nun doch wieder ein Volk? – sich zwischen so viel Unfähigkeit nicht entscheiden kann.
Was die allgemeine Stimmung betrifft, erlebt Mela eine tägliche Live-Show im SPANFERKEL! Da verschlingen sich die gegensätzlichsten Meinungen zu ornamentalen Gebilden der groteskesten Art. Nicht nur der Volkszorn wuchert, sondern auch Volkes Freude an der Schöpfung brandneuer Etymologien.Und der Witz treibt mit derber Faust die letzten Reste von Sentimentalität aus den Gemütern.
Wenn sich der Chef noch gelegentlich durch den Hintereingang ins SPANFERKEL schleicht, bittet er Mela, die Tür zum Gastraum sofort zu schließen, er könne keine Volksmeinung mehr hören, und vom Mann auf der Straße erhoffe er sich, daß er so schnell wie möglich vorübergehe. »Es genügt«, sagt er zu ihr, »daß er mich wählt. Ich kann ohnehin nicht mit einem jeden reden.«
Melas Trostgebärden kommen anscheinend auch nicht mehr so ganz aus dem Herzen, jedenfalls greifen sie nicht mehr wie gewohnt. Und für einen tollkühnen Augenblick spielt sie mit dem Gedanken, ihm auch noch die Tochter zu bescheren. Bei alldem, was ihm in der letzten Zeit zusammengekommen ist, würde ihn das auch nicht mehr umhauen. Aber sie verbietet sich den Gedanken sofort. So einfach schmeißt man ein altes Geheimnis nicht hin. Er würde es auch gar nicht zu würdigen wissen, so anderweitig gefordert, wie er ist. Kommt nicht in Frage. Das Kind ist auch so groß geworden, und was es zur Zeit an den Tag legt, ist vielleicht nur eine Laune.
Nur keine Übergriffe. Das Kind ist ihrs und wird es auch bleiben. Bei dem Spielraum. Und Mela schätzt ihre eigene Großmütigkeit. Damit kommt man am weitesten. Daß das Kind seine Freiheit ausprobiert, ist sein gutes Recht, und sie, Mela, wird sich halt an den veränderten Gesichtsausdruck gewöhnen müssen. Auch Borisch ist ein bißchen anders geworden, seit sie wieder zurück ist. Vielleicht kommt sie in den Wechsel? Und Mela seufzt, sich diese Unausweichlichkeit vor Augen führend.
»Erinnerst du dich noch?« fragt plötzlich der Chef, »worumwir damals gemeinsam gekämpft haben?« Mela ist wie vom Schlag gerührt. Spielt nun auch schon sein Gedächtnis verrückt? »Um eine korruptionsfreie, umverteilte Welt. Und was ist daraus geworden?« Sein Ton bebt anklagend nach.
»Ein Schmarrn«, entfährt es Mela mit einer Vehemenz, die den Chef endgültig aus seinen Sinnkrämpfen reißt.
»Also ganz so kann ich es nicht sehen«, sagt er pikiert. »Immerhin haben wir eine Menge erreicht. Und gerade du brauchst dich nicht zu beklagen.«
»Entschuldige!« Mela greift nach seiner Hand. »Das ist mir nur so herausgerutscht.«
»Naja«, sagt der Chef, »du warst eben nie eine Kämpfernatur. Du hast dich mit dem Vorhandenen zufriedengegeben, und die Partei war dir wurscht.«
»Kann sein«, antwortet Mela mit niedergeschlagenem Blick. Und sie tut gut daran, denn an ihrem Zwerchfell rüttelt ein dermaßen olympischer Lacher, daß er, wenn er den Weg durch ihren Mund nähme, den Chef endgültig aus ihrer Nähe vertriebe.
»Noch ein Bier?«
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