Ueber die Verhaeltnisse
war nicht klar, ob ich dich überhaupt anrufen sollte.«
Sie wollte ihre Hand zurückziehen, aber er hielt sie fest. »Und jetzt?« fragte sie, eine Spur zu spitz.
»Ich will dich um mich haben.«
»Und du hast ganze zwei Tage gebraucht, um dir darüber klarzuwerden?«
Sein Gesichtsausdruck war nun eher komisch, schuldbewußt, mit einem Stich ins Lächerliche. »Du bist so jung, vielleicht weißt du nicht, was du tust.«
»Hältst du mich für dumm?«
Er nahm nun auch ihre zweite Hand und bedeckte sein Gesicht mit ihren Fingern. »Dich nicht, aber mich vielleicht.«
Während sie beide von den Kissen hochzukommen versuchten, knieten sie einen Augenblick voreinander. Die Müdigkeit hatte ihn sanft gemacht, und er näherte sich ihr mit einer Behutsamkeit, die es Frô ermöglichte, ihn zu streicheln. Langsam verschränkten sie sich ineinander, und die Lust drängte sich still und nachhaltig in ihr Fleisch.
Als sie nebeneinander auf dem Bett lagen, sagte Ayhan: »Laß mich nicht schlafen, die Zeit ist kostbar.«
»Was meinst du damit?« Ihre Wimpern kitzelten seine Schulter, aber da schlief er schon. Sie betrachtete ihn lange, versuchte sich jede Linie, jeden Bogen, jedes Härchen in diesem Gesicht einzuprägen. Seine Brauen verliefen dicht, ziemlich gerade und waren über der Nasenwurzel zusammengewachsen, wo sich ein einzelnes weißes Haar in sie mischte. Erst jetzt fiel ihr auf, daß sich auch sein Haaransatz bereits stellenweise grau färbte. Sein Mund war entspannt, und die Lippen wölbten sich stärker als sonst unter der gebogenen Nase. Wie wohl seine Mutter ausgesehen haben mag, die Türkin? Und worin unterschied sich der Bruder so sehr, daß man es ihm nicht ansah? Was eigentlich? Daß sie beide dieser Mutter Söhne waren? Was mochte den Vater überhaupt bewogen haben, sich in diesem fremden Land anzusiedeln?
Was aber würde sie ihm antworten, wenn er sie fragte, wer ihr Vater war?
Vorsichtig schälte sie sich unter der Decke hervor, trat leise auf und hockte sich vor den Spiegel. Angestrengt starrte sie hinein, als müsse sich das merkwürdige zweifarbige Tier in ihm wiederfinden lassen, das sich selber zu verschlingen drohte, aber sie blieb allein, hell und schmal mit übereinandergeschlagenenBeinen, die Arme um die Schultern geschlungen. Sie schaute sich mit runden Augen aufmerksam ins Gesicht. Was ließ sich ihr ansehen? Die Mutter gewiß, aber das war nicht alles. Welchen Vater verrieten ihre Züge, und warum hatte sie nie nach ihm gefragt? Ob auch ein solcher Anspruch verjähren konnte? Sie hatte sich lange nicht mehr dafür interessiert, so ausschließlich war sie das Kind ihrer Mutter gewesen – und so fraglos. Und sie hatte ihrer Stärke nur die eigene Schwäche entgegengesetzt und es sich darin wohl sein lassen, des Schutzes gewiß. Was aber würde geschehen, wenn sie selber stark wurde? Mußten sie dann miteinander kämpfen, oder würde ihre Mutter mit einemmal die Schwache spielen? Sie zuckte bei dem Gedanken zusammen und schob ihn weit von sich. Ihre Mutter würde verstehen. Wenn nicht gleich, dann später. Sie würde verstehen, wie sie immer verstanden hatte. Aber hatte es bisher überhaupt etwas gegeben, für das das Verstehen so wichtig gewesen wäre?
Für einen Augenblick gewann ihre Mutter in solchem Maß die Herrschaft über ihre Züge, daß sie sie vor sich sitzen glaubte, mit dem merkwürdig ratlosen Ausdruck, der sich ihrer bemächtigte, wenn Frô ihr als Kind von ihren Träumen erzählt hatte. »Nein«, sagte Frô in den Spiegel hinein, »ich bin nicht du, ich sitze hier draußen.« Und sie griff nach ihrem Haar, zog es sich in die Stirn und schnitt eine kindische Grimasse, wie um ihre Mutter zum Lachen zu bringen. Und diese verschwand mit schmerzlich zuckenden Mundwinkeln aus ihrem Gesicht.
Ayhan drehte sich, mit den Zähnen knirschend, auf die andere Seite, erwachte aber nicht. Sie erhob sich, ohne die Arme zu gebrauchen, wie sie es seinerzeit in der Turnstunde geübt hatten. Es fröstelte sie, und sie zog Ayhans am Fußende desBettes liegenden Kaftan über. Auf Zehenspitzen ging sie in die kleine Küche. Mehrere schmutzige Gläser und Tassen standen übereinander in der Abwasch, deren Chromverkleidung ein vielfältiges Muster von kalkhältigen Wasserrändern bedeckte. Sie folgte einer Spur von Kaffeestaub bis zu einem Regal, in dem sie die dazugehörige Dose fand, dann setzte sie Wasser auf. Ob Ayhan immer allein gelebt hatte? Im Kühlschrank standen ein paar aufgerissene
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