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Über Gott und die Welt

Über Gott und die Welt

Titel: Über Gott und die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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zwischen Kräften ist reformistisch, es produziert Kompromisse. Aber das Spiel verläuft nie lediglich zwischen zwei Kräften, sondern zwischen unzählig vielen, das Parallelogramm generiert bedeutend komplexere, multidimensionale Figuren. Zur Klärung der Frage, welche Kräfte welchen anderen Kräften entgegengesetzt werden sollen, intervenieren Entscheidungen, die nicht vom Spiel der Kräfte abhängen, sondern von dem der Macht. Es bildet sich eine Wissenschaft von der Zusammensetzung der Kräfte.
    Um noch einmal auf Duby zurückzukommen: Wenn Raubritter existieren, wenn Händler mit ihren Reichtümern auf den Plan treten, wenn die hungernden Bauern das Land verlassen, um in den Städten Arbeit zu suchen, haben wir es mit Kräften zu tun. Die Symbolstrategie, die Formulierung überzeugender Theorien von drei oder vier sozialen Ordnungen und somit die Konsolidierung bestimmter Machtverhältnisse kommen ins Spiel, um festzule-gen, durch welche Kräfte welche anderen Kräfte eingedämmt werden sollen und auf welches Ziel die daraus resultierenden Parallelogramme auszurichten sind. Bei Duby droht jedoch, zumindest für den zerstreuten Leser, dieses Spiel der Kräfte aus dem Blick zu geraten angesichts der vorherrschenden Thematik, die den permanenten Umstrukturierungsprozeß der Symbolfi guren betrifft.
    Nehmen wir nun noch ein weiteres Buch hinzu, das letzte in meinem Paket: Michael Howards Geschichte der Waffentechnik im Verlauf der Geschichte Europas.57 Ich werde es nur summarisch behandeln, mit der Einladung an den Leser, sich auf eigene Faust in diesem faszinierenden Buch umzutun, das bei den Kriegen der Feudalzeit beginnt, um bei denen der Nuklearzeit zu enden, voller Anekdoten und Überraschungen. Im Jahre 1346, in der Schlacht von Crécy, setzt Edward III. zum erstenmal Bogenschützen mit langem Bogen gegen das feindliche Reiterheer ein. Diese langen Bogen, die fünf bis sechs Pfeile abschießen können in der Zeit, in der eine Armbrust einen einzigen Bolzen schleudert, setzen dem Reiterheer eine neue Kraft entgegen. Sie vernichten es. Die Reiter sind von nun an gezwungen, ihre Rüstungen zu verstärken: Sie werden schwerer, unbeweglicher und taugen nicht mehr als Fußkämpfer. Die Kraft des bewaffneten Reiters schwindet.
    Das sind Kräfteverhältnisse. Man reagiert auf sie, indem man versucht, die neue Kraft einzudämmen. Mit anderen Worten, man reformiert die gesamte Struktur der Bewaffnung. Durch Umstrukturierungen solcher Art geht die Geschichte Europas voran, die Armeen verändern sich (man denke nur an die Klage der Ariostschen Paladine über die wilde Blindheit der »Arkebuse«).
    Doch zugleich erzeugen die neuen Kräfteverhältnisse im Verlauf ihrer wechselseitigen Eindämmung und Zusammenfügung
    neue Ideologien der Armee und produzieren neue symbolische Setzungen. Hierin scheint Howard umgekehrt wie Duby vor-zugehen: von den Kräften zu den neuen Strukturen der Macht, während Duby von der Formulierung der Bilder der Macht zu den ihr unterliegenden neuen und alten Kräfteverhältnissen geht.
    Wenn man aber diesen Gegensatz nicht genügend bedenkt, verfällt man leicht in Formen von politischem Infantilismus.
    Man sagt nicht zu einer Kraft: »Nein, ich gehorche dir nicht!«
    Man entwickelt Techniken, um sie einzudämmen. Umgekehrt reagiert man nicht auf ein Machtverhältnis mit einem bloßen Kraftakt: Die Macht ist sehr viel subtiler und stützt sich auf bedeutend engmaschigere Konsensnetze, ihre Wunden verheilen rasch, und man trifft sie, wohin man auch schlägt, immer nur an der Peripherie.
    Deshalb ist man gewöhnlich so fasziniert von den großen Revolutionen, die den Nachgeborenen als ein einziger Kraftakt erscheinen, der an einem scheinbar unbedeutenden Punkt anset-zend ein ganzes Machtgefüge aus den Angeln hebt: die Eroberung der Bastille, der Sturm auf das Winterpalais, der Handstreich auf die Moncada-Kaserne … Und deshalb bemüht sich der
    Jungrevolutionär, dergleichen Großtaten zu wiederholen, und wundert sich dann, daß sie nicht gelingen. Denn der »historische« Kraftakt war ja in Wirklichkeit nie ein Kraftakt, sondern ein symbolischer Akt, ein theatralischer Schlußpunkt, der weithin sichtbar und bühnenwirksam eine Krise der Machtverhältnisse sanktionierte, die sich längst unterschwellig verbreitet hatte. Eine Krise, ohne die sich der Pseudo-Kraftakt sehr bald als ein bloßer Kraftakt erwiesen hätte: als Akt ohne jede symbolische Macht, der sich in einem kleinen lokalen

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