Über Gott und die Welt
Er fragt sich, woher diese Theorie (und Ideologie) der drei Stände kommt und fi ndet die Antwort in frühmittelalterlichen Texten aus karolingischer Zeit, in denen vom »Volk Gottes« die Rede ist, das sich in drei Ordnungen oder Parteien oder Stufen teilt: in Prediger, Krieger und Arbeitende. Eine andere im Mittelalter beliebte Metapher war die der Herde mit Hirten, Hunden und Schafen. Nach einer gängigen Interpretation dieser Dreiteilung hätten wir somit den Klerus, der die Gesellschaft geistlich führt, die Krieger, die sie schützen, und das Volk, das beide ernährt. Ein klares und ziemlich einfaches Bild, und man braucht nur an den Investiturstreit und den Konfl ikt zwischen Kaiser und Papst zu denken, um zu begreifen, wovon die Rede ist.
Aber Duby geht über diese gängige Interpretation hinaus. Auf mehr als vierhundert Seiten von außergewöhnlicher Dichte, in denen er die Geschichte dieser Vorstellung von der karolingischen Zeit bis zum Ende des 12. Jahrhunderts (und nur in Frankreich) verfolgt, bringt er zutage, daß dieses Ordnungsmodell der Gesellschaft nie sich selber gleicht. Es taucht immer wieder auf, aber mit unterschiedlicher Terminologie oder anders geordneten Termini; gelegentlich nimmt es statt der Form eines Dreiecks auch die eines Vierecks an, die Ausdrücke zur Bezeichnung der Stände wechseln, mal ist von milites die Rede, mal von pugnatores und mal von Rittern, mal von Klerus und mal von Mönchen, mal von Bauern, mal von Handwerkern und mal von Händlern.
Der Grund dafür ist, daß im Verlauf von drei Jahrhunderten zahlreiche neue Entwicklungen in der europäischen Gesellschaft eintreten und sich wechselnde Allianzen bilden: Allianzen zwischen städtischem Klerus und Feudalherren, um das Volk nie-derzuhalten, zwischen Klerus und Volk, um sich den Pressionen der (Raub-)Ritterschicht zu entziehen, zwischen Mönchen und Feudalherren gegen den städtischen Klerus, zwischen städtischem Klerus und Nationalmonarchien, zwischen Nationalmonarchien und großen Mönchsorden … Man könnte die Aufzählung ad
infi nitum fortsetzen, das Buch von Duby kommt uns vor wie einem Leser des Jahres 3000 eine Studie über die politischen Beziehungen zwischen Christdemokraten, Vereinigten Staaten, Unternehmerverband und Kommunisten im Italien unserer Zeit.
In der man sehr rasch bemerkt, daß die Dinge nicht immer so klar sind, wie sie erscheinen, daß kanonische Formeln wie Öffnung nach links oder wirtschaftliche Entwicklung recht verschiedene Bedeutungen annehmen können, nicht nur beim Übergang von Andreotti zu Craxi, sondern sogar schon auf einem Parteitag der Democrazia Cristiana und im Zeitraum zwischen zwei Wahlen.
Desgleichen sind jene mittelalterlichen Querelen, die auf den ersten Blick so klar erscheinen, so leicht durchschaubar als Spiel zwischen wohldefi nierten Parteien, genau besehen hochkompliziert. Was gewissermaßen nun auch rechtfertigt, daß Dubys Buch so gedrängt voller Daten ist, so faszinierend und zugleich so ermüdend, schwer zu entwirren, bar aller unmittelbar verständlichen Resümees. Denn es konfrontiert uns mit einem Strom von zähfl üssigen Manövern. Wenn der Cluniazensermönch von der Dreiteilung in Klerus, Ritter und Bauern spricht, aber dabei das Phantom einer Vierteilung zu beschwören scheint, indem er die Dreistufi gkeit des irdischen Lebens durch eine Zweistufi gkeit des überirdischen Lebens ergänzt, um der Dreizahl des Diesseits die Mönche als Mittler zum Jenseits entgegenzustellen, dann wird das Spiel infi nitesimal und es geht in Wahrheit um die Vorherrschaft, die der Mönchsorden über die drei anderen ordines ausüben will, um den städtischen Klerus auf bloße Stellvertreterfunktionen zu reduzieren und ein direktes Verhältnis zwischen Klöstern und Feudalstruktur herzustellen.
Jede dieser scheinbar so gleichen und doch so verschiedenen Formeln macht sich auf einem Netz von Kräfteverhältnissen fest: Die Raubritter plündern das Land, das Volk muß sich Beschützer suchen und die Früchte des Bodens verteidigen, aber im Volk erheben sich auch schon jene, die Eigentum besitzen und danach streben, die Situation zum eigenen Vorteil zu wenden, usw. usw.
Diese Kräfteverhältnisse würden jedoch rein zufällig bleiben, würden sie nicht durch eine Machtstruktur zusammengehalten, die alle durchdringt und bereit macht, sich in ihr wiederzuerken-nen. Und zu diesem Zweck interveniert die Rhetorik, das heißt die ordnende und modellbildende Funktion der Sprache,
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