Über Gott und die Welt
wesentlich mehr als zwanzig Platten besteht und daß überdies besagte Platten auch ein Faksimile von jerusalemischer Mauer im Nebenraum bilden müßten, woraus erhellt, daß die archäologischen Originale stark ergänzt worden sind. Aber das macht nichts, was zählt, ist die Gewißheit über den kommerziellen Wert des Ganzen: Die Pietà hat, so wie sie dasteht, eine Riesensumme gekostet, da man ja extra nach Italien fahren mußte, um eine wirklich authentische Nachbildung zu bekommen. Andererseits vermerkt eine Beischrift neben dem Blue Boy von Gainsborough, daß sich das Original jetzt in der Huntington Art Gallery in San Marino, California, befi ndet, die dafür siebenhundertfünfzigtausend Dollar bezahlt hat. Also ist es Kunst. Aber es ist auch Leben, denn die Beischrift fügt eher sinnverwirrend hinzu: »Das Alter des Blue Boy bleibt ein Geheimnis.«
Den Gipfel des Palace erreicht man in zwei Räumen. In dem einen sieht man van Gogh. Nicht etwa die Reproduktion eines bestimmten Bildes, sondern ihn selber. Der arme Vincent hockt da auf einem der Stühle, die er so oft gemalt hat, im Hintergrund ein zerwühltes Bett, wie er es ebenfalls dargestellt hat, und rings an den Wänden kleine van Goghs. Am eindrucksvollsten ist aber das Gesicht des großen Irren: aus Wachs natürlich, aber bemüht, des Künstlers hektischen und gequälten Pinselstrich wiederzugeben, und so erscheint es zerfressen von einem eklen Ekzem, der Bart ist fühlbar zerfl eddert und grindig, die Haut blättert ab – ein Skorbut, eine Herpes zoster, eine Mykose.
Die zweite Spitzenleistung bietet ein Raum mit drei Skulpturen, reproduziert in Wachs und folglich echter, weil farbig, während die Originale aus Marmor waren und daher ganz weiß und leblos.
Es sind ein Gefangener und ein David von Michelangelo, der Gefangene ist ein Muskelprotz mit auf der Brust hochgerolltem Unterhemd und Lendenschurz Marke prüdes Nudistencamp,
der David ein ragazzo di vita mit schwarzem Kraushaar, gefährlicher Zwille und grünem Feigenblatt auf dem rosa Bäuchlein.
Die Beischrift erklärt uns, daß die Wachsfi gur das Modell so darstellt, wie es gewesen sein muß, als Michelangelo es kopierte.
Unweit davon steht die Venus von Milo, an eine jonische Säule gestützt, vor einer Wand mit rotfi guriger Vasenmalerei. Ich sage
»gestützt«, denn die knallig fl eischfarbene Figur hat tatsächlich Arme. Die Beischrift präzisiert: »Venus de Milo« (man beachte das Sprachengemisch) »zum Leben erweckt, wie sie war, als sie einst in Griechenland, ungefähr um 200 vor Christus, für den unbekannten Bildhauer Modell stand.«
Der Palace of Living Arts hat sich unter das Zeichen des Don Quijote gestellt (den es hier ebenfalls gibt, obwohl er kein Bild ist), denn »er repräsentiert die idealistische und realistische Natur des Menschen, und als solcher wurde er zum Symbol des Ortes gewählt«. Ich nehme an, mit »idealistisch« ist der unvergängliche Wert der Kunst gemeint und mit »realistisch« die Tatsache, daß man sich hier einen uralten Wunsch erfüllen kann, nämlich einmal über den Rand des Bildes hinauszuschauen, einen Blick dahinter zu werfen, von einer als Büste porträtierten Figur auch die Füße zu sehen. Was heute die höchstentwickelte Reproduktionstechnik auf der Basis von Laserstrahlen, die Holographie, mit eigens rea-lisierten Objekten erreicht, das schafft der Palace of Living Arts mit den Werken der Alten Meister.
Frappierend ist nur, daß in der perfekten Reproduktion des van Eyckschen Ehepaars Arnolfi ni alles dreidimensional realisiert worden ist, ausgenommen der einzige Gegenstand, den der Maler in überraschend illusionistischer Technik gemalt hat und den die Nachbildungsspezialisten des Palace mühelos hätten einfügen können – nämlich der konvexe Spiegel im Hintergrund, der die Rückseite der gemalten Szene zeigt, wie durch ein Weitwinkelobjektiv gesehen. Hier, im Reich der dreidimensionalen Wachsfi guren, ist der Spiegel nur gemalt. Es gibt dafür keine klaren Gründe, höchstens solche symbolischer Art: Angesichts eines Falles, in welchem die Kunst bewußt mit der Illusion gespielt hat, um sich durch das Bild eines Bildes mit der Vanitas aller Bilder zu messen, hat die Industrie des Absolut Falschen eine Nachbildung nicht gewagt, vermutlich aus Angst vor dem Risiko einer Offenbarung der eigenen Lüge.
Die verzauberten Schlösser
An der gewundenen Küstenstraße von San Francisco nach Süden, wenn man die Bucht von Monterey und
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