Über Gott und die Welt
à la de Sade vermählen, oder an die abgehäuteten, Muskel für Muskel entblößenden Bartholomäus-Figuren, die gewisse anatomische Hörsäle zieren, oder auch an den hyperrealistischen Eifer der neapolitanischen Krippe.
Doch jenseits dieser Erinnerungen, die im Mittelmeerraum immer nur an mindere Kunst denken lassen, evozieren sie auch illustre Werke wie die bemalten Holzschnitzereien in deutschen Rathäusern oder Kirchen und die Grabfi guren des fl ämisch-bur-gundischen Mittelalters. Was kein Zufall ist, denn der extreme amerikanische Realismus spiegelt vielleicht den Geschmack der mitteleuropäischen Einwanderer. Auch denkt man unvermeidlich an das Deutsche Museum in München, das im Bestreben, die Geschichte der Technik mit absoluter wissenschaftlicher Präzision darzustellen, nicht nur Dioramen von der Art des Museums der Stadt New York erfi ndet, sondern auch keine Hemmungen hat, ein ganzes Bergwerk aus dem 19. Jahrhundert tief unter der Erde nachzubauen, mit Bergleuten, die zusammengekrümmt in den Stollen liegen, und Grubenpferden, die an Winden und Seilen in den Schacht hinuntergelassen werden. Das amerikanische Wachsmuseum ist nur bedenkenloser, es zeigt Brigitte Bardot im knappen Lendenschurz, es jubelt über das Leben Christi mit Tschaikowski und Mahler, es rekonstruiert das Wagenrennen Ben Hurs in einem gekrümmten Raum, um den Panorama-Effekt der Vistavision zu erzeugen, denn alles muß wie in Wirklichkeit sein, auch wenn diese Wirklichkeit reinste Erfi ndung ist.
Daß schließlich die Philosophie des Hyperrealismus all diese Rekonstruktionen beherrscht, suggeriert die Betonung der
»most realistic statue of the world« in Ripley’s ›Believe It Or Not‹
Museum. Ripley hatte vierzig Jahre lang für amerikanische Blätter Vignetten gezeichnet, in denen er die Wunder darstellte, die er auf seinen Reisen durch die Welt entdeckte. Vom einbalsamierten Schrumpfkopf der Wilden auf Borneo bis zur ganz aus Streichhölzern fabrizierten Geige, vom Kalb mit zwei Köpfen bis zur 1842 aufgetauchten angeblichen Sirene entging ihm nichts in der Welt des Verblüffenden, der Mißbildungen und des Unglaublichen. Als er genug beisammen hatte, errichtete er eine Kette von Museen, die all jene »echten« Objekte zeigen, von denen er gesprochen hatte, so daß wir sie nun in eigens gefertigten Schreinen besichtigen können: die Sirene von 1842 (präsentiert als »die größte Fälschung der Welt«), eine Gitarre aus einem französischen Bidet des 18. Jahrhunderts, eine Sammlung kurioser Grabsteine, die Jungfrau von Nürnberg, die Figur eines Fakirs, der in Ketten gelebt hat, oder die eines Chinesen mit Doppelpupillen und – Wunder über Wunder – die besagte realistischste Statue der Welt, »die lebensgroße Holzfi gur eines Mannes, geschnitzt von dem japanischen Künstler Hanamuna Masakichi und von Kunstkennern als das perfekteste je geschaffene Abbild des Menschen bezeichnet«. Die Figur ist ein normales Beispiel für anatomischen Realismus, mit gut gezeichneten Rippen usw. aber nicht dies ist das Verwirrende, sondern daß weder sie noch das Kalb mit den zwei Köpfen noch die Geige aus Streichhölzern die authentischen Fundstücke sind, denn Ripley’s Museum gibt es in etlichen Exemplaren, die alle einander gleichen, und die Geige wird als geduldiges Werk eines ganzen Lebens präsentiert. Jedes Objekt ist also eine perfekte (aber mit anderen Materialien rea-lisierte) Kopie eines noch viel geduldigeren Originals. Es kommt jedoch nicht auf die Echtheit des Stückes an, sondern auf die Erstaunlichkeit der offensichtlich von ihm überbrachten Kunde.
Als exemplarische Wunderkammer teilt Ripley’s Museum mit den barocken und mittelalterlichen Mirakelsammlungen das Prinzip der unterschiedslosen Anhäufung aller Merkwürdigkeiten, neu ist bei ihm nur die absolute Irrelevanz des Einzelstückes oder, genauer, die ungenierte Eskamottierung des Echtheitsproblems. Die reklamierte und angepriesene Echtheit ist nicht historisch, sie ist zu sehen. Alles sieht aus wie echt und ist daher echt – jedenfalls ist echt unbestreitbar, daß es wie echt aussieht und daß es wie etwas aussieht, was seinerseits unbestreitbar als echt und real existierend genommen wird, auch wenn es, wie Alice im Wunderland, nie existiert hat. Die Ungeniertheit geht so weit, daß die Inschriften auf den Grabsteinen aus aller Welt durchweg immer englisch sind, was aber keinen Besucher hier stört (gibt es einen Ort auf der Welt, wo nicht englisch
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